Lehrbuch der Psychotraumatologie. Gottfried Fischer
die Normierung und Standardisierung von Situationen mit dem Begriff des Scripts bezeichnet (für die kognitive Psychologie z. B. Rumelhart; zum Situationsbegriff Schott 1991, 135 ff). Script ist eine Metapher, die ursprünglich aus der Filmsprache stammt. Einer Szene in einem Film liegt ein Drehbuch zugrunde. Dieses besteht aus einem Script, das die Schauspieler und der Regisseur in Handlung umsetzen. Das Konzept erscheint uns für die Situationsanalyse deshalb geeignet zu sein, weil es objektiv standardisierte und subjektive Elemente umfasst, die in konkreten Situationen miteinander verwoben sind. Nach Lindsay und Norman (1981) enthält ein Script drei Arten von Handlungsabläufen:
1.Kulturell normierte Abläufe.
2.Situativ gesteuerte, d. h. durch die gegenseitigen Erwartungen der Interaktionspartner bestimmte Abläufe.
3.Personengesteuerte Handlungsabläufe, die sich auf die beteiligten Persönlichkeiten und ihre individuelle Biographie zurückführen lassen.
Am Beispiel einer Arztvisite weist das Drehbuch unter 1 hochgradig ritualisierte Handlungsabläufe auf. Gleichzeitig gehen aber auch die gegenseitigen Erwartungen jeweils von Arzt und Patient in die Handlungssequenz ein und wenn man die Analyse genau genug betreibt, lässt sich auch eine personengesteuerte Dramaturgie in ihnen entdecken, die über die jeweilige Interaktionssituation hinausreicht in die Biographie der Handelnden hinein. Auch hier können vor allem bei interaktionsgestörten Persönlichkeiten hochgradig ritualisierte Abläufe entdeckt werden, wie auch der Scriptbegriff bei Eric Berne in „Spiele der Erwachsenen“ zeigt (1964). „Script“ bezeichnet bei Berne den unbewussten Lebensentwurf einer Person, ein „Drehbuch“, das die verschiedenen Szenen und Situationsfolgen eines ganzen Lebenslaufes bestimmen kann. Situationen sind umgrenzte Einheiten von Erleben, Verhalten und sozialer Interaktion, die zwar auseinander hervorgehen und ineinander übergehen können, sich aber durch eine Grenze voneinander unterscheiden. Für die Bezeichnung dieser Grenze zwischen Situationsfolgen schlägt Thomas (1969) den Begriff des Horizonts vor. Die Horizont-Metapher entstammt der phänomenologischen Tradition von Edmund Husserl und entspringt der räumlichen Erfahrung, beispielsweise der eines Wanderers. Eine Situation ist demnach begrenzt von dem Erlebnishorizont dessen, der sich in ihr befindet. Es ist aber immer auch möglich, diesen Horizont zu „erweitern“, die Situation zu „überschreiten“ und sie dadurch zu verändern.
Dieses Überschreiten einer Situation auf eine künftige Lösung und Weiterentwicklung hin, ist Bestandteil des Situationsmodells von Thomas. Ist es ausgeschlossen, den Horizont einer Situation zu überschreiten, sie auf einen Zukunftsentwurf hin zu verändern, so geraten wir bereits in die Sphäre pathogener, möglicherweise sogar traumatischer Situationen, da das menschliche Weltverhältnis auf die Veränderung negativer Situationsfaktoren hin angelegt ist. Auch das „Thema“ der Situation hat objektive und je persönliche Aspekte. Das Thema einer psychotherapeutischen Situation beispielsweise bilden Erleben und Verhalten des Patienten. Ebenso können aber auch die therapeutische Beziehung und das Erleben oder Verhalten des Therapeuten zum Thema werden. Das Situationsthema ist also zunächst vorgegeben, durch reflexive Thematisierung des in der Situation Thematischen kann sich eine Situation jedoch weiterentwickeln. Ein Wechsel des Themas führt oft schon einen Wechsel der Situation herbei, so etwa, wenn in einer traditionellen Vorlesungsveranstaltung eine hochschulpolitische Diskussion gefordert wird und dann auch stattfindet. Der Übergang vom vorgegebenen Thema zur „Thematisierung“ der Situation entspricht dem Übergang von Kommunikation zur Meta-Kommunikation. Dieses meta-kommunikative Überschreiten vorgegebener Situationsthemen gehört zum „offenen Horizont“der einer gelingenden Situationsgestalt normalerweise eignet. Umgekehrt sind der Verlust des „offenen Horizonts“ und die Unmöglichkeit von Meta-Kommunikation charakteristische Merkmale potenziell traumatischer Situationen.
Wenn wir nun versuchen, das Situationskonzept für die Analyse traumatischer Situationen heranzuziehen, so müssen wir zunächst einmal der Forderung nach „Einheit von Subjekt und Gegebenheiten“ Rechnung tragen. Dies bedeutet, dass wir die objektiven Lagebestimmungen einer traumatischen Situation als „Situationsfaktoren“ fassen müssen, d. h. in der Weise, wie sie sich für das erlebende und handelnde Subjekt in dieser „traumatischen Situation“ darstellen. Eine Beschreibung traumatischer Lagefaktoren an sich, d. h. ohne Bezug auf ein erlebendes Subjekt, wäre in der Psychotraumatologie ein sinnloses Unternehmen. Zwar ist es möglich, subjektive und objektive Aspekte der traumatischen Situation getrennt darzustellen, wie wir dies in den folgenden Kapiteln versuchen werden. Für die Grundlagen einer allgemeinen Psychotraumatologie jedoch muss die Klammer des Situationsbezuges stets erhalten bleiben. Nur so wird es möglich, Situationen wirklich zu erfassen. Das Gleiche gilt umgekehrt für die Untersuchung der Strukturen und Funktionen des erlebenden und sich verhaltenden Subjekts. Auch hier ist es möglich, das Erleben des Subjekts getrennt zu thematisieren, z. B. eine Analyse der traumatischen Reaktion als solcher vorzunehmen, etwa unter physiologischen Aspekten. Wir können traumatische Erlebnisreaktionen beschreiben, müssen uns dabei jedoch bewusst sein, dass hier eine Abstraktion vorliegt, die unserer Begrifflichkeit entstammt und nicht der realen Verfassung unseres Gegenstandes. „Nichtsituierte“ oder „desituierte“ Subjekte sind Abstraktionen, die lediglich zu Darstellungszwecken vorübergehend gerechtfertigt erscheinen. Sobald eine solche Abstraktion in ihrer Bedeutung für das reale Leben verstanden werden soll, ist es notwendig, sie zu resituieren, d. h., sie wieder in den konstitutiven Situationsbezug erlebender und handelnder Subjekte einzufügen.
Wir wollen dieses Prinzip der Resituierung unserer Begrifflichkeit am Beispiel des Syndroms der allgemeinen Psychotraumatologie, des bPTBS darstellen. Es stellt eine Abstraktion dar, die für die Beschreibung häufig zu erwartender kurz- und langfristiger Reaktionen auf traumatische Situationen von begrenztem Nutzen ist. Wir dürfen diese Abstraktion jedoch nicht mit der Wirklichkeit erlebender und handelnder Subjekte verwechseln. Diese erleben stets eine bestimmte traumatische Situation in ihrer historischen und individuellen Besonderheit. Die Reaktion auf diese traumatische Erfahrung, der Versuch, die traumatische Situation zu überschreiten, ist immer geprägt durch diese individuelle und historisch spezifische Situationserfahrung. Und nur wenn wir in einer Untersuchung dieser situativen Besonderheit auch gerecht werden, können wir erwarten, die erforderlichen psychotraumatologischen Verständnisrahmen erreicht zu haben. Abstraktionen wie das PTBS können hierbei behilflich sein, sie können aber auch, de-situiert verstanden, die Verständnisbemühungen abschneiden und irreleiten.
Wir kommen hier auf das Verlaufsmodell der psychischen Traumatisierung zurück. Nur in solch einer integrativen Verlaufskonzeption lässt sich verhindern, was traditionell bisher häufig geschehen ist, dass traumatische Reaktionen, die im Situationserleben fundiert sind, von diesem Situationsbezug abgelöst und in eine Eigenschaft der traumatisierten Subjekte umgebogen werden. Weite Bereiche der traditionellen Psychopathologie müssen in der beschriebenen Weise „resituiert“ werden. Nur so lässt sich langfristig entscheiden, welche psychopathologischen Symptome auf traumatische Situationserfahrungen zurückgeführt werden müssen. In diesem Sinne kann die Rückverwandlung von Psychopathologie in Psychotraumatologie als ein programmatisches Ziel verstanden werden.
Wir werden im Folgenden einige Konzepte entwickeln, die bei der Analyse traumatischer Situationen von Nutzen sind. Beide Untersuchungsrichtungen, die objektive und die subjektive, sind zwar aufeinander bezogen, sie sind aber nicht durch einander ersetzbar. Methodisch sollte die objektive Situationsanalyse zeitlich vor der subjektiven erfolgen. Hier fragen wir nach objektiven, potenziell traumatischen Situationsfaktoren. Bei Desastern menschlichen Ursprungs und den oft über lange Zeit sich hinziehenden Beziehungstraumen muss die objektive Situationsanalyse vor allem nach solchen Strukturen und Beziehungsformen suchen, die den offenen Horizont der Situation eliminieren und geschlossene Situationen schaffen. Bei Gewaltverbrechen ist die Ausweglosigkeit offensichtlich gegeben. Bei Beziehungstraumen, etwa vom Typus des → Double-Bind ist dieses Kriterium weniger offensichtlich. Dennoch lassen sich bei eingehender Untersuchung die kommunikativen Mittel rekonstruieren, die eine analoge Auswegslosigkeit erzielen, indem z. B. → Metakommunikation verhindert, Einflussnahme verschleiert wird usf.
Ein häufig eingesetztes Mittel, um eine künstliche Schließung der Situation zu erreichen, ist die Verwirrung kognitiver Kategorien. Wir wollen diesen Mechanismus als → Orientierungstrauma bezeichnen (vgl. Abschnitt 3.1.1). Klassisches Beispiel ist das Double-Bind. Die Verwirrung kognitiver Kategorien