Lehrbuch der Psychotraumatologie. Gottfried Fischer

Lehrbuch der Psychotraumatologie - Gottfried Fischer


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fördern. Alkoholgenuss in begrenzter Menge kann so eine subjektive Symptomminderung initial nach der traumatischen Erfahrung bedingen. Es besteht jedoch die Gefahr der Gewöhnung, wenn keine anderen Verarbeitungsmöglichkeiten gefunden werden. Alkohol- oder Medikamentenabhängigkeit ist häufig ein Grund, weshalb sich Traumapatienten später in Behandlung begeben.

      Um auszuschließen, dass PTBS-Symptome vorgetäuscht werden, kann einmal die Motivlage, zum anderen die Lebensgeschichte des Patienten herangezogen werden. In einigen psychologischen Tests wie dem MMPI gibt es zudem Kontrollskalen, die eine Tendenz zum Verschlimmern oder Übertreiben von Symptomen abzuschätzen erlauben.

      Im Folgenden werden wir am Beispiel eines 53-jährigen Patienten, der Opfer eines Verkehrsunfalls wurde, einige Probleme von Diagnose und Differentialdiagnose verdeutlichen.

      Klinisches Beispiel. Der Patient wurde auf Anordnung des Gerichts einer medizinisch-psychologischen Begutachtung unterzogen, als die gegnerische Unfallversicherung sich weigerte, für die somatischen und psychischen Störungen, die sich im Anschluss an den Unfall eingestellt hatten, aufzukommen. Er war mittlerweile, etwa 3 Jahre nach dem Unfall, arbeitsunfähig geworden, nachdem er zuvor als selbständiger Kleinunternehmer sehr erfolgreich tätig war und ca. 500.000 € Umsatz im Jahr erarbeitet hatte. Die Versicherung war bereit, ca. 3.000 € Schadensersatz zu leisten. Dem Gericht lagen bereits einige fachliche Stellungnahmen vor, von denen 3 den Zusammenhang mit dem Unfall anerkannten, während eine ihn bestritt und einen erblich bedingten Krankheitsprozess unterstellte, der sowohl die körperlichen wie die psychischen Symptome hervorgebracht haben sollte. Allerdings konnte dieser Gutachter kein Prodromalstadium der angenommenen Krankheit vor dem Unfall nachweisen, was für die Diagnose erforderlich gewesen wäre.

      Das zweite ausführliche Gutachten nahm eine „unfallreaktive Somatisierungsstörung“ nach Rudolf (1991) an. Hier wird ein unbewusster Konflikt unterstellt, der durch den Unfall lediglich in unspezifischer Weise stimuliert wurde. Der Konflikt war allerdings im Gutachten nicht inhaltlich benannt worden. Von daher fragte das Gericht den neuen Gutachter, ob tatsächlich ein solcher unbewusster Konflikt vorläge.

      Den Unfallhergang schildert der Proband (= Untersuchungspartner in einer psychodiagnostischen Untersuchung) folgendermaßen:

      Hinter einem mit hoher Geschwindigkeit entgegenkommenden Lastwagen auf der Landstraße sei plötzlich ein PKW hervorgefahren, um zu einem Überholversuch anzusetzen. Herr R., so nennen wir den Probanden, hatte keine Möglichkeit mehr auszuweichen, da die Straße zu schmal war und die Geschwindigkeit aller drei Fahrzeuge zu hoch. Offenbar hatte der überholende PKW-Fahrer versäumt zu überprüfen, ob die Straße für das geplante Überholmanöver frei war. Der Proband berichtet dann, er habe jetzt von Fertigkeiten Gebrauch gemacht, die er früher bei einem Überlebenstraining für gefährliche Situationen im Straßenverkehr erworben hatte. Er sei ausgewichen unter äußerst riskanten Bedingungen und so sei es ihm gelungen, das Schlimmste zu vermeiden. Er riss den Wagen herum auf den Seitenstreifen, prallte gegen mehrere Bäume und kam zum Stehen an einem Baum, hinter dem die Böschung in einen etwa 8 m tiefer gelegenen Fluss abstürzte. Herr R. stemmte sich am Boden des Fahrzeugs mit dem rechten Fuß mit aller Kraft „symbolisch“ gegen diesen Abgrund. Er war dreimal heftig mit dem Kopf angestoßen und hatte sich ein Schädel-Hirn-Trauma zugezogen, wohingegen der Fahrer des entgegenkommenden Wagens unverletzt blieb. Beide hatten sich in einer sehr gefährlichen, lebensbedrohlichen Situation befunden. Dem entsprach auch das subjektive Erleben von Herrn R., wie er es im diagnostischen Interview schilderte.

      Vor allem das plötzliche und völlig unvorhersehbare Auftauchen des entgegenkommenden Wagens hinter dem Lastwagen hervor gehöre zum Schrecklichsten, woran er sich erinnern könne, berichtet Herr R. Der Unfallgegner sei ihm mit vor Entsetzen „so weit wie Untertassen aufgerissenen Augen“ entgegengekommen, habe aber überhaupt nichts unternommen, um den Zusammenprall zu vermeiden. Ihm selbst sei in diesen Bruchteilen von Sekunden, vor allem unmittelbar nach dem gelungenen Ausweichmanöver, die Zeit stehen geblieben, und ein „Lebensfilm“ sei innerlich abgelaufen. Er habe sich so etwas nie vorstellen können. In den wenigen Augenblicken sei zunächst die Erinnerung an einen Bombenangriff aufgetaucht, den er mit viereinhalb Jahren miterlebte. Damals floh der Proband zusammen mit seiner Mutter zwischen brennenden Häusern und teilweise bizarr herumliegenden Leichen hindurch. Auch andere Ereignisse aus seinem Leben seien darin vorgekommen, wie z. B. die Erinnerung an seine Hochzeit, eine Schlägerei, Gedanken an verschiedene Freunde, lebende und tote, und das alles in diesen Bruchteilen von Sekunden, während er mehr oder weniger reflexartig versuchte, das Schlimmste zu vermeiden. Nach dem Unfall sei ihm noch sehr unangenehm das Verhalten des Unfallgegners aufgefallen, der ja auch schon während des Unfalls nichts zur Vermeidung des Schlimmsten beigetragen hatte. So habe dieser sich nicht einmal bei ihm bedankt, obwohl er ihm doch einiges zu verdanken gehabt habe. Der Proband fügt noch hinzu, er sei in diesen wenigen Augenblicken seines Lebensfilms wohl tatsächlich nahe an den Tod herangekommen.

      Dieses Unfallerleben spiegelt sich auch in einem der Alpträume, von denen Herr R. seither regelmäßig nachts heimgesucht wird und aus denen er schweißgebadet erwacht. Es rasen zwei Autofahrer aufeinander zu, aber, wie der Proband sagt, „normal“, d. h. ohne ein Überlebenstraining in brenzligen Verkehrssituationen. Der Patient sieht wie in Großaufnahme den Motor des gegnerischen Fahrzeugs auf sich zukommen: „Ich sehe den Motor, sehe mich blutüberströmt, den anderen auch, wie wenn ich über der ganzen Sache schweben würde; dann werde ich plötzlich hellwach, habe Kopfweh bis zu Sehstörungen, zittere, stehe auf und kann mich erst beruhigen, wenn meine Frau in der Nähe ist.“

      Die Symptome des Kopfschmerzes und der Sehstörung, die im Traum vorkommen, hatten sich auch in Wirklichkeit unmittelbar nach dem Unfall eingestellt. Der Kopfschmerz hatte sich mit der Zeit bis zur Unerträglichkeit gesteigert. Die Sehstörung bestand in Doppeltsehen und führte dazu, dass der Proband sich optisch zeitweise nicht mehr orientieren konnte. Um die sich ebenfalls steigernde Angst vorm Autofahren zu überwinden, zwang er sich zeitweise, auch unterstützt durch eine Verhaltenstherapie, zu größeren Fahrten, wurde aber durch das Doppeltsehen und die Kopfschmerzen so sehr behindert, dass er nur etwa 10 km pro Stunde zurücklegen konnte.

      Untersuchungsergebnisse. Bei der neuropsychologischen Untersuchung ergab sich vor allem ein Defizit im nichtverbalen Kurzzeitgedächtnis, erfasst u. a. mit dem „Recurring-Figures-Test“, das auf eine Beeinträchtigung der frontokortikalen Funktionen verweist. Dieses Teilergebnis fiel aus dem sonstigen intraindividuellen Leistungsniveau des Probanden heraus. Aber auch einige andere Merkmale lagen im unteren Grenzbereich. Das Ergebnis war insgesamt typisch für den Residualzustand nach einem Schädel-Hirn-Trauma, wie er nach den mittlerweile vergangenen 3 Jahren zu erwarten war. Es legt aber auch nahe, dass die kognitiven Funktionen unmittelbar nach dem Unfall erheblich stärker beeinträchtigt waren. Diese Annahme deckt sich mit der Selbstschilderung des Probanden. Bei seinen Klagen über Orientierungsschwierigkeiten im Straßenverkehr erwähnte er, dass ihm „alles zu schnell“ gehe, er nicht mitkomme usf. Solche Klagen sind für Patienten typisch, die unter Störungen der Konzentration und des visuellen Kurzzeitgedächtnisses leiden. Herr R., der gewohnt war, schwierige Situationen durch Energie, Entschlossenheit und Tatkraft zu meistern, konnte sich auf seine eigenen Wahrnehmungsmöglichkeiten nicht mehr verlassen. Dies hat sicherlich zur weiteren Verunsicherung des Patienten beigetragen, zu depressiven Selbstzweifeln an seiner Fähigkeit, sich in der Welt zurechtzufinden.

      Auch unter psychotraumatologischen Gesichtspunkten ergab sich ein deutlicher Zusammenhang zwischen der nachfolgenden Angstsymptomatik und dem konkreten Unfallgeschehen. Angstauslösend im Straßenverkehr waren für Herrn R. in der postexpositorischen Zeit entgegenkommende Lastwagen. Es wiederholte sich in den fortbestehenden Ängsten also die Unfallsituation, als hinter dem Lastwagen, bis dahin unsichtbar, plötzlich der entgegenkommende Wagen hervorkam. Der Umstand, dass Herr R. sich nur noch symbolisch mit dem rechten Fuß gegen den „Abgrund“, gegen die Gefahr stemmen konnte, in den viel tiefer gelegenen Fluss zu fallen, kehrt in der Angst auf Leitern und erhöht gelegenen Positionen wieder, unter denen der Proband ebenfalls leidet. Wenn er auf einer Leiter steht, muss er sich mit dem rechten Fuß und dem Bein gegen irgendeinen Halt stützen, um die Angst einigermaßen unter Kontrolle zu bekommen. Auch kann er sich auf diesen Erhöhungen nur halten, wenn er das rechte Gesichtsfeld abdeckt, beispielsweise mit einer klebenden Binde, als müsste er sich


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