Lehrbuch der Psychotraumatologie. Gottfried Fischer

Lehrbuch der Psychotraumatologie - Gottfried Fischer


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Symptomen als Reaktion auf einen identifizierbaren Belastungsfaktor, die innerhalb von 3 Monaten nach Beginn der Belastung auftreten.

      B. Die Symptome oder Verhaltensweisen sind von klinischer Bedeutung, wie aus den folgenden beiden Merkmalen ersichtlich:

      1)Deutliches Leiden, welches unverhältnismäßig zum Schweregrad und zur Intensität des Belastungsfaktors ist, nach Berücksichtigung des externen Umfelds und kultureller Faktoren, die den Schweregrad und das Beschwerdebild der Symptome beeinflussen können.

      2)Bedeutsame Beeinträchtigung in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.

      C. Das belastungsabhängige Störungsbild erfüllt nicht die Kriterien für eine andere psychische Störung und stellt nicht nur eine Verschlechterung einer vorbestehenden psychischen Störung dar.

      D. Die Symptome sind nicht Ausdruck einer gewöhnlichen Trauerreaktion.

      E. Wenn die äußere Belastung oder deren Folgen beendet sind, bestehen die Symptome nicht länger fort als weitere sechs Monate.

      Bestimme ob: Akut: Wenn das Störungsbild weniger als 6 Monate anhält.

      Andauernd (Chronisch): Wenn das Störungsbild 6 Monate oder länger anhält.

      Es wird unterschieden zwischen akuter Anpassungsstörung und chronischer. Bei ersterer dauert die Störung weniger als sechs Monate, bei letzterer sechs Monate oder länger. Die Anpassungsstörung kann einhergehen entweder mit einer depressiven Stimmungslage oder einer ängstlichen, ferner mit einer Mischung aus Angst und Depression, mit Verhaltensstörungen oder einer Mischung von Verhaltens- und emotionalen Störungen. Tauerreaktionen, beispielsweise in Folge des Verlustes einer nahestehenden Person, bilden eine Ausnahme, wenn die Reaktion eine erwartbare Antwort darstellt, etwa auf den Tod einer geliebten Person. Geht die Reaktion über das erwartbare Maß an Trauer und Bedrückung hinaus, so kann eine Anpassungsstörung im Sinne einer pathologischen Trauerreaktion diagnostiziert werden.

      Differentialdiagnostisch zum bPTBS ist der Zeitraum bedeutsam, in dem sich die Störung manifestiert. Während das bPTBS Monate oder auch Jahre nach dem belastenden Ereignis auftreten kann, tritt die Anpassungsstörung innerhalb von drei Monaten im Anschluss daran auf und dauert nicht länger als sechs Monate an, gerechnet ab dem Zeitpunkt der traumatischen Erfahrung. Nach diesem Kriterium können sich beide Störungsbilder zeitlich überschneiden. So kann es sein, dass eine gegenwärtige Anpassungsstörung in Wirklichkeit die Reaktion auf eine längere Zeit zurückliegende traumatische Erfahrung darstellt und so den Kriterien des bPTBS entspricht.

      Ausblick zur ICD-11. 2022 soll die ICD in der elften Version in Kratft treten, zum Zeitpunkt der Drucklegung liegt die neueste Version jedoch noch nicht vor. Die folgenden Hinweise beziehen sich auf die Vorschläge der Arbeitsgruppe zu belastenden Ereignissen (Maercker et al. 2013a; Maercker et al. 2013b) und den koordinierten Vorschlägen (World Health Organization 2017). Diese zielen auf eine starke Vereinfachung der Diagnostik mit dem Ziel einer Konzentration auf den vermuteten symptomatischen Kern des Störungsbildes, eine Reduktion von komorbiden Diagnosen und internationale Homogenisierung der Diagnostik ab. Im Bereich des PTBS werden Symptome wie Dysphorie oder Niedergeschlagenheit, Insomnie, Konzentrationseinschränkungen und Reizbarkeit nur noch als assoziierte Symptome gelistet. Als Kernkriterien werden Wiedererleben des Traumas, Vermeidung von Gedanken an das Trauma oder Situationen, welche an das Trauma erinnern könnten, und Hypervigilanz gelistet. Dies reduziert das PTBS erneut auf eine Störung im Angstspektrum und schließt externalisierende und anhedonische Symptome weitgehend aus.

      Ein post-hoc-Vergleich der Diagnosekriterien anhand bekannter amerikanischer Stichproben zeigt, dass sich durch die ICD-11 Kriterien eine um 10 bis 30 Prozent reduzierte Prävalenz im direkten Vergleich zu DSM-5 Kriterien ergibt. Werden als Maßstab die Diagnosekriterien der ICD-10 herangezogen, ergibt sich gar eine 25 Prozent bis 50 prozentige Reduktion der Prävalenz (Wisco et al. 2016).

      Eine Netzwerksanalyse, die anhand einer großen Stichprobe von amerikanischen Veteranen durchgeführt wurde, hatte zum Ziel, verknüpfte Kernelemente des PTBS zu definieren. Die Autoren fanden folgende Kernelemente: Anhaltende negative Emotionen, Unvermögen, positive Emotionalität zu erleben, Albträume, aktive Vermeidung externer Hinweise auf das Trauma, aktive Vermeidung von Gedanken an das Trauma und sich aufdrängende Gedanken und Erinnerungen (Mitchell et al. 2017). Es zeigt sich, dass nur die letztgenannten drei Elemente in den Vorschlägen zur ICD-11 Berücksichtigung finden und auch diese dort restriktiv ausgelegt werden sollen.

      Das hier vorgeschlagene Prozessmodel lässt sich mit den ICD-11-Vorschlägen schwer vereinbaren. In der Abwägung der Nosologien bietet das DSM-5 deutlich umfassendere Diagnosemöglichkeiten unter Einbeziehung eines breiteren Spektrums an Symptomen, welche der Heterogenität der Ausprägung in dem hier vorgeschlagenen Prozessmodell der Erkrankungen eher gerecht wird.

      Differentialdiagnose und Komorbiditäten der psychotraumatischen Belastungssyndrome. Differentialdiagnostische Kriterien sind vor allem gegenüber solchen Störungen von Interesse, die Ähnlichkeit oder Überschneidungen mit den psychotraumatischen Syndromen aufweisen. Gleichzeitig kann ein Patient jedoch auch unter beiden Störungen leiden (Komorbidität, gleichzeitiges Auftreten zweier Krankheiten). Von den Patienten mit PTBS erfüllen etwa 80% die Kriterien mindestens eines weiteren Störungsbildes.

      Neben der schon erwähnten Anpassungsstörung überschneidet sich das bPTBS jeweils in einigen Symptomen mit Depression, Schizophrenie, Angststörungen und antisozialer Persönlichkeitsstörung. Die Ähnlichkeit einiger Symptome mit psychotischem Erleben hatte nach Arnold (1985) dazu geführt, dass nicht wenige Vietnamveteranen mit PTBS die Diagnose „paranoide Schizophrenie“ erhielten. Ihre intrusiven Erinnerungsbilder wurden als Halluzination bewertet und die erhöhte Wutbereitschaft der ehemaligen Soldaten auf paranoide Ideen zurückgeführt. Die Aufnahme des PTSD in das DSM-III hat diese Fehldiagnosen reduziert. Das Beispiel kann verdeutlichen, wie häufig vor Entwicklung der Psychotraumatologie Traumaopfer als schwer „gestört“, evtl. als psychotisch eingestuft wurden.

      Mit der Major Depression im DSM-5 überschneiden sich folgende Symptome: Verlust von Interesse an Aktivitäten, Konzentrationsstörungen und Schlafstörungen. Die Differentialdiagnose ist hier schwierig, da sich eine depressive Stimmungslage auch aus den verbreiteten Phänomenen des Schuldgefühls, evtl. der Überlebendenschuld bei Traumaopfern ableiten lässt. Ein differenzielles Kriterium ist das Vorkommen prätraumatischer depressiver Episoden. Komorbiditäten zwischen Depression und psychotraumatischen Störungsbildern werden relativ häufig diagnostiziert. Die Major Depression nach DSM-5 beinhaltet keines der Symptome in Kategorie B und C, und nur wenige der Symptome der Kategorien D und E (Tabelle 2). Eine Major Depression sollte daher nur dann diagnostiziert werden, wenn diese Symptome nicht vorliegen.

      Ein differentialdiagnostisches Kriterium zur Schizophrenie ist nach Arnold (1985) der Inhalt der dissoziierten Rückblenden und Erinnerungsbilder. Während diese beim PTBS die traumatischen Erfahrungen ausdrücken, lassen sich die schizophrenen Halluzinationen meist mit keiner konkreten Erfahrung in Zusammenhang bringen. Andererseits kann eine psychotische Episode selbst ein traumatisches Ereignis für den Betroffenen darstellen. McGorry et al. (1991) konnten bei annähernd der Hälfte von 36 stationär behandelten Patienten ein PTBS nachweisen, das sich in der Erholungsphase nach dem psychotischen Erleben entwickelte.

      Überschneidungen mit der antisozialen Persönlichkeit bestehen in Impulsivität, feindseliger Haltung, unverantwortlichem Finanzgebaren und sexuellen Funktionsstörungen als Symptomen, die sich auch bei Traumapatienten finden. Unterschiede lassen sich vor allem an der Biographie der beiden Patientengruppen feststellen. Nach Arnold (1985) sind schon in Kindheit und Jugendzeit auftretende antisoziale Verhaltensweisen ein verlässlicher Hinweis auf die antisoziale Persönlichkeit. Komorbidität besteht jedoch häufig, da antisoziale Persönlichkeiten einen Lebensstil pflegen, der sie einem erhöhten Traumarisiko aussetzt. In jedem Falle ist das Auftreten dieser Symptome zeitlich nach einem traumatischen Ereignis ein Hinweis, der gegen eine Persönlichkeitsstörung spricht.

      Auch mit Alkoholabusus ist eine erhöhte Komorbiditätsrate gegeben, die u. a. auf die Versuche von Traumapatienten zur Selbstmedikation zurückzuführen


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