Lehrbuch der Psychotraumatologie. Gottfried Fischer

Lehrbuch der Psychotraumatologie - Gottfried Fischer


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zusammenfasst, dass eine differenzielle physiologische Reaktion auf verschiedenartige Umweltsituationen schon im Tierversuch zu beobachten ist. Weiner bezeichnete das 3-phasige Verlaufsmodell der Stressreaktion nach Selye auch als generelles Adaptationssyndrom (GAS), das umweltabhängig spezifische Varianten aufweisen kann.

      Die Untersuchungen Selyes haben sich für die Erforschung der Psychosomatik innerer Krankheiten sehr fruchtbar ausgewirkt. Zumal Selye auch schon psychologische Symptome beschrieben hat, die dem physiologischen Stressverlauf entsprechen, kann man diese Forschungsrichtung insgesamt als wichtigen Beitrag zu einer psychologischen und psychosomatischen Traumatologie bezeichnen. Das Ungleichgewicht zwischen Organismus und Umwelt wurde in seinen Folgen auf verschiedenen Ebenen des psychophysischen Weltverhältnisses erforscht – eine Konstellation, die im Modell des → Situationskreises nach Thure v. Uexküll und Wesiack veranschaulicht werden kann, das wir im Abschnitt 2.2 zur Darstellung traumatischer Situationserfahrungen verwenden.

      Da Selye einen „Reiz“, den Stressor und andererseits eine organismische „Reaktion“, die Stressreaktion als Bezugspole seines Modells gewählt hatte, wurde die Stressforschung, besonders innerhalb der nordamerikanischen Psychologie und Medizin über lange Zeit nach dem → behavioristischen Reiz-Reaktions-Modell fortgeführt. In dieser Interpretation „bewirkt“ der Stressor als Reiz unmittelbar die Stressreaktion und schließlich die Krankheit, eine Vereinfachung gegenüber einem → ökologischen Verständnis der Subjekt-Objekt-Beziehung, die zwar, und das ist der für die Traumaforschung wertvolle Aspekt des Modells, zur Analyse von Umweltfaktoren anregt, aber dem subtilen Zusammenspiel von Subjekt und Objekt im Erleben von Stress und Trauma zu wenig Aufmerksamkeit schenkt. Erst im Zuge der sog. kognitiven Revolution gegenüber dem → Behaviorismus entstand eine differenziertere Konzeption der Subjekt-Umwelt-Beziehung, wie zum Beispiel im sog. „transaktionalen Stressmodell“ nach Lazarus (1984). Organismus und Umwelt werden hier als aufeinander bezogene Größen gefasst, eine Vorstellung, die sich einer ökologischen und dialektischen Konzeption, von der wir ausgehen, zumindest annähert. Dementsprechend wurden jetzt auch subjektive „Vermittlungsgrößen“ wie z. B. → Abwehr- und → Copingprozesse berücksichtigt. Es entstand eine Forschungsrichtung, die salopp als „Stress- and Coping-Approach“ bezeichnet wird. Hierin verbinden sich kognitiv-behaviorale Ansätze mit Konzepten der Anpassungs- und Bewältigungsmechanismen aus der psychoanalytischen Ich-Psychologie. Der „Stress und → Coping“-Zugang ist neben der Psychoanalyse eine der Strömungen, die in der Psychotraumatologie zusammenfließen. Faszinierend ist die Beobachtung, dass Forschungsrichtungen mit zunächst völlig unterschiedlichem Ausgangspunkt und unterschiedlichen Begriffssystemen sich zunehmend auf die Wechselwirkung zwischen Individuum und Umwelt zu konzentrieren beginnen, sobald sie sich mit Phänomenen der Traumatisierung befassen. Von daher sollte die immer genauere phänomenologische Beschreibung und wissenschaftliche Erforschung der menschlichen Umweltbeziehung in ihren subjektiven wie objektiven Aspekten die epistemologische Grundlage der Psychotraumatologie bilden.

      1.4 Diagnostik als „Momentaufnahme“: Syndrome der allgemeinen und speziellen Psychotraumatologie

      In der Psychotraumatologie müssen wir mit einer Vielzahl von Symptomen und Syndromen als mögliche Folgeerscheinungen rechnen. Diese lassen sich auf die Variationsbreite traumatischer Situationen einerseits, individueller Reaktionen andererseits zurückführen, vor allem aber auf die wechselseitige Verschränkung von objektiven und subjektiven Momenten, die sich aus der im Lebenslauf gebildeten individuellen Wirklichkeitskonstruktion des Menschen ergibt. Natürlich bedeutet diese Variationsbreite keineswegs Regellosigkeit und reinen Zufall. Hier herrschen neben allgemeinen Gesetzmäßigkeiten auch Regeln, die man paradoxerweise vielleicht als „individuelle Gesetzmäßigkeiten“ (→ individuell-nomothetischer Ansatz) bezeichnen kann. Letztere immer besser zu verstehen, ist ein besonders lohnenswertes Ziel psychotraumatologischer Forschung und therapeutischer Praxis.

      Um terminologisch der Bandbreite möglicher Folgeerscheinungen des Traumas zu entsprechen, schlagen wir vor, von allgemeinen und speziellen psychotraumatischen Syndromen zu sprechen. Die Unterscheidung entspricht dem Aufbau dieses Lehrbuchs in einen Teil I, der von allgemeinen Gesetzmäßigkeiten traumatischer Erfahrungsprozesse handelt und Teil II mit einer Auswahl spezieller traumatischer Situationen und Situationskonstellationen. Vergewaltigung, Deprivation, Folter, sexueller Missbrauch in Kindheit oder in Psychotherapie und Psychiatrie sind Beispiele für Themen der speziellen Psychotraumatologie. Die Bandbreite dieser in sich gleichwohl typisierbaren traumatischen Situationserfahrungen ist so groß, dass bei den Folgeerscheinungen ein einheitliches „Traumasyndrom“ kaum zu erwarten ist. Vielmehr hat sich auch bisher schon „spontan“ bei Forschern und Klinikern die Gewohnheit gebildet, besondere Syndrome in diesen Bereichen zu beschreiben: etwa ein Vergewaltigungstrauma, → professionales Missbrauchstrauma, spezielle Dynamiken und Folgen bei sexuellem Kindesmissbrauch, ein KZ-Syndrom, ein Foltersyndrom usf. Dem wollen wir Rechnung tragen, indem wir diese als „Syndrome der speziellen Psychotraumatologie“ oder als „spezielle psychotraumatische Belastungssyndrome“ bezeichnen (spezielle PTBS). Sie werden zumeist nach der traumatischen Situation benannt. Natürlich treten auch bei den speziellen Syndromen aus den genannten Gründen wiederum vielfältige individuelle Varianten auf.

      Als Syndrome der allgemeinen Psychotraumatologie oder als allgemeine psychotraumatische Belastungsyndrome bezeichnen wir hingegen solche Klassifikationen, die versuchen, Symptome und Syndrome zu formulieren, die mehreren speziellen Syndromen oder vielleicht sogar allen gemeinsam sind. Hier bewegen wir uns also auf einer abstrakteren Ebene mit allen Vor- und Nachteilen weit reichender Verallgemeinerung. Dennoch scheinen sich hier einige Taxonomien herauszubilden, die für die klinische Praxis und weitere Forschung heuristisch von großer Bedeutung sein können. Am bekanntesten ist das sog. „posttraumatische Stresssyndrom“ (Posttraumatic Stress Disorder, PTSD) aus dem Diagnostisch Statistischen Manual der nordamerikanischen psychiatrischen Gesellschaft, das nachfolgend beschrieben wird.

      A. Bedrohung mit Tod, ernsthafter Verletzung oder sexueller Gewalt in einer oder mehreren der folgenden Formen:

      1)Direktes Erleben eines der traumatischen Ereignisse.

      2)Persönliches Miterleben eines dieser traumatischen Ereignisse bei anderen Personen.

      3)Mitteilung, dass eines der traumatischen Ereignisse einem engen Familienmitglied oder einem Freund widerfahren ist. Im Falle eines Todesfalles (drohenden Todes) muss dieser durch einen Unfall oder eine Gewalthandlung eingetreten sein.

      4)Wiederholte Konfrontation mit aversiven Details einer traumatischen Situation (z. B. Notfallhelfer, die Leichenteile einsammeln müssen; Polizeibeamte,


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