Lehrbuch der Psychotraumatologie. Gottfried Fischer
sind 2 Fälle zu unterscheiden, a) das Trauma wirkt als auslösendes Element, es enthüllt eine präexistente neurotische Struktur, b) das Trauma hat einen determinierenden Anteil gerade am Inhalt des Symptoms. Wiederholung des traumatischen Ereignisses, immer wiederkehrende Alpträume, Schlafstörungen etc., was als ein wiederholter Versuch erscheint, das Trauma zu binden und abzureagieren; eine ähnliche Fixierung an das Trauma geht einher mit einer mehr oder weniger generalisierten Aktivitätshemmung des Subjekts. Diesem zuletzt genannten klinischen Bild behalten Freud und die Psychoanalytiker gewöhnlich die Bezeichnung traumatische Neurose vor“.
Während wir heute die erste Konstellation eher als auslösendes Moment einer neurotischen Reaktion bezeichnen, gehört zu den differenziellen Merkmalen der traumatischen Neurose der inhaltliche Bezug zwischen traumatischer Situation und der jeweiligen Symptomatik.
Unter den psychoanalytischen Autoren, die das Traumakonzept weiterentwickelt bzw. spezielle Bereiche der Traumatisierung näher erforscht haben, sind zu nennen Abraham Kardiner, Masud M. Khan, John Bowlby, Donald W. Winnicott, Max Stern, Henry Krystal und andere mehr (eine Übersicht bei Brett 1993). Kardiner verfasste sein Werk „The traumatic neuroses of war“ während des zweiten Weltkrieges im Jahre 1941. Seine klinische Erfahrung ging zurück auf die psychotherapeutische Arbeit mit amerikanischen Soldaten, die im Krieg gegen Nazi-Deutschland und Japan kämpften. Er war der erste, der die massiven physiologischen Begleiterscheinungen traumatischer Reaktionen schon in der Namengebung berücksichtigte, indem er von der traumatischen Neurose als einer „Physioneurose“ sprach. Kardiner formulierte ein Syndrom von Folgeerscheinungen, das in vielem bereits als Vorläufer des heutigen basalen PTBS gelten kann. Er übernahm die von Sandor Rado geprägte Sichtweise der Neurose als einer Form des Anpassungs- und Bewältigungsversuchs und wies darauf hin, dass es wichtig sei, den Sinn hinter den Symptomen zu entdecken, um die Folgeerscheinungen zu verstehen. Folgende Leitmerkmale wurden von Kardiner aufgeführt: 1. Schrumpfen oder Einengung des Ichs (ego contraction); 2. Ausgehen der inneren Ressourcen oder energetische Verarmung; 3. „disorganization“, was wir heute als Strukturverlust und evtl. auch Dissoziation bezeichnen würden.
Die Symptomatik, die er im Einzelnen beschrieb, war sehr komplex. Sie konnte akut oder chronisch sein und bestand aus Ermüdungserscheinungen und Lustlosigkeit, Depressionen, schreckhaften Reaktionen, wiederkehrenden Alpträumen, Phobien und Ängsten, die situationsbezogen mit dem Trauma assoziiert waren, eine Mischung aus impulsivem Verhalten und Unbeständigkeit der zwischenmenschlichen Beziehungen sowie eine Neigung zu Misstrauen, Verdächtigungen und Ausbrüchen von Wut und Gewalttätigkeit.
Eine Erweiterung des Freudschen Traumakonzeptes findet sich bei Masud Khan mit seinem Begriff des → kumulativen Traumas (1963). Hier addieren sich Ereignisse und Belastungen, die jedes für sich subtraumatisch, d. h. unter der Schwelle der Traumatisierung im engeren Sinne verbleiben würden, zu einer insgesamt traumatischen Verlaufsgestalt. Immer wenn das Ich seinen Schutzschild, seine Reiz-Abwehr-Barriere wieder aufrichten will, tritt statt sozialer Unterstützung eine weitere Belastung ein. Dies lässt auf die Dauer die Selbstschutzfunktionen des Ich zusammenbrechen.
Zu erwähnen sind auch die Ausführungen von D. W. Winnicott – eines Londoner Kinderarztes und Psychoanalytikers – zum Trauma und zur Auswirkung von Traumata, dessen Werk zu den gedankenreichsten der Psychoanalyse zählt. Winnicott geht davon aus, dass die frühkindliche Entwicklung nur dann ungestört verläuft, wenn das Kind in der frühesten Lebensperiode auf eine Umwelt trifft, die seine noch unentwickelten Möglichkeiten so optimal ergänzt, dass es sich der Illusion kindlicher Allmacht, einer völligen Verfügungsgewalt über die psychosoziale Umgebung überlassen kann. Allein diese Allmachtillusion ermöglicht eine selbstbewusste Entwicklung, die dem Kind die Gewissheit vermittelt, seine Umweltbedingungen kreativ gestalten zu können. Auch wenn die Illusion später schrittweise abgebaut wird, bleibt sie doch die Grundlage späterer „Selbsttätigkeit“ („self efficacy“ in der „sozial-kognitiven Lerntheorie“ von Bandura 1976) und schöpferischer Leistungen, welche die sozial und physikalisch vorgegebene Umwelt nicht passiv hinnehmen, sondern sie auf die menschlichen Bedürfnisse und Möglichkeiten hin ausgestalten. Durch Versagen der Umwelt oder durch Übergriffe gegenüber dem Kind kommt es zu einer Minitraumatisierung, welche die kindliche Allmachtphantasie zerstört und eine verfrühte → Desillusionierung bewirkt. Statt einer „genügend guten“ Umgebung, die sich in ausreichendem Maß den kindlichen Bedürfnissen anpasst, muss nun umgekehrt das Kind sich seiner Umgebung anpassen, was es in dieser frühen Periode überfordert. So kommt es zum Aufbau eines falschen Selbstsystems, worin das Subjekt sich den Umweltanforderungen unterwirft und dabei oft lebenslang begleitet ist von einem Gefühl der Fremdheit und inneren Leere, der Empfindung, in seinen Handlungen selbst nicht wirklich präsent zu sein (Winnicott 1954; Schacht 1996).
Ein Autor, der in einem psychoanalytischen Verständnishorizont arbeitet, ausgebildeter Analytiker war und psychoanalytische Konzeptionen eigenständig weiterentwickelt hat, ist John Bowlby. Er war einer der ersten Psychoanalytiker, die empirische Forschung mit psychoanalytischer Theorie und Praxis verbanden. So entstand das auch heute noch bedeutendste Standardwerk zum → Deprivationstrauma. In den drei Arbeiten „Separation“, „Bounding“ sowie „Loss, Mourning and Depression“ (1976, 1987) hat Bowlby Forschungen und Konzepte zur Auswirkung von frühkindlicher Deprivation wie z. B. früher Elternverlust, häufig wechselnde Beziehungserfahrungen und Trennungstraumata zusammengefasst. Bowlby verbindet psychoanalytisches Gedankengut und die subtilen Beobachtungen, die in der psychoanalytischen Situation möglich werden mit einer Vielzahl anderer Ansätze, von kognitiver Entwicklungspsychologie über neurobiologische Konzepte und Verhaltensbiologie bis hin zur Soziologie, → Epidemiologie und Kulturgeschichte. Auch in methodischer und methodologischer Hinsicht kann Bowlbys Werk als Vorbild für die Psychotraumatologie betrachtet werden.
Max Stern (1988) sieht die unmittelbare Folge von massiver Traumatisierung in einer katatonoiden Reaktion einerseits, einem Erstarren und in einem agitierten Bewegungssturm andererseits. Dies sind die ersten Notfallreaktionen auf massive psychische Traumatisierung. H. Krystal (1968) greift die katatonoide Reaktion von Stern auf und sieht sie als Folge von massiver anhaltender psychischer Traumatisierung. In diesen Zuständen, in der so genannten katastrophischen Reaktion, verfällt das Individuum in völlige Hilflosigkeit. Hier ergibt sich eine Parallele zum Konzept der erlernten → Hilflosigkeit nach Seligman. Die katatonoide Reaktion auf ein katastrophisches Trauma kann zur Aufgabe aller Selbsterhaltungsfunktionen und somit, im übertragenen Sinne, zum psychogenen Tod führen. In der Psychoanalyse war Krystal der erste, der zwischen massiver katastrophischer Traumatisierung und leichteren Formen des Traumas deutlich unterschieden hat.
Eine dritte Forschungsrichtung, die zur Entstehung der Psychotraumatologie wesentlich beigetragen hat, ist die Stressforschung mit den Pionierarbeiten von Selye. Selye näherte sich der Frage belastender Umweltfaktoren als Internist unter dem Gesichtspunkt der körperlichen Reaktionen und der Krankheiten, die durch kurz- oder langfristige Belastung hervorgerufen werden können. Im Jahre 1936 formulierte er sein Modell der → Stressreaktion mit den drei Phasen des Alarms, des Widerstandsstadiums und schließlich des Erschöpfungsstadiums. Die Alarmreaktion ist gekennzeichnet durch einen erhöhten Sympathicotonus und eine sympathicoton gesteuerte „Bereitstellungsreaktion“, bei der der Energieumsatz erhöht und ATP-Reserven freigesetzt werden. Im Widerstandsstadium werden denn diese Reserven des Körpers genutzt, um die massive Belastung kompensieren zu können. So kommt es physiologisch etwa zur Produktionssteigerung von Nebennierenhormonen wie Cortisol und zur Erhöhung des Blutzuckerstoffwechsels. Dauert der dann pathogene Umweltreiz, der „Stressor“, wie Selye ihn nannte, weiter an, so treten massive und zum Teil irreversible Folgen auf wie Dekompensation der Reproduktionsfunktionen und Sexualfunktionen, der Wachstumsvorgänge und der Immunkompetenz. Ebenfalls kann andauernder Stress in klinisch relevantem Maße die Wundheilung beinträchtigen (Gouin 2011). Als Extrembeispiel können die nach den langdauernden Stellungskriegen beobachteten „Kriegszitterer“ gelten. Unter dem dauerhaft fortgesetzten extremen Stress entwickelte sich ein Syndrom, das zum Teil schwersten Tremor bis hin zur Gangunfähigkeit beinhaltete.
Selye unterteilte die Umweltreize in Stressoren mit positiver versus negativer Bedeutung für den Organismus. Die positiven nannte er Eustress (von altgr. eu = wohl, gut), die negativen Disstress (von altgr. dys = schecht). Er ging davon aus, dass die organismische Reaktion auf