Lehrbuch der Psychotraumatologie. Gottfried Fischer

Lehrbuch der Psychotraumatologie - Gottfried Fischer


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Kriegssituation und Verarbeitung traumatischer Erlebnisse, das u. a. zur Formulierung des sog. „posttraumatischen Stresssyndroms“ (Posttraumatic Stress Disorder, PTSD) geführt hat. Auch Naturkatastrophen haben die Traumaforschung verstärkt, wie etwa die Flutkatastrophe bei Buffalo Creek in West-Virginia im Jahre 1972. Aus der ersten Hilflosigkeit gingen intensive Forschungsarbeit und therapeutische Bemühungen um die Opfer hervor.

      Neben Naturkatastrophen und Kriegen sind als Anstoß für die psychotraumatische Forschungsarbeit auch soziale Bewegungen zu nennen, vor allem solche, die sich gegen Unterdrückung und Ausbeutung wenden. Die Arbeiterbewegung und andere emanzipatorische Strömungen haben ausbeuterische Arbeitsverhältnisse angeprangert, zur Humanisierung der Arbeit beigetragen und zusammen mit den geistigen Kräften der Aufklärung die Abschaffung der Kinderarbeit in Europa erreicht. Seit der Französischen Revolution wurde die Folter in aller Welt geächtet. Die Frauenbewegung hat immer wieder verdeckte Gewaltverhältnisse gegen Frauen und Kinder an die Öffentlichkeit gebracht. Initiativen gegen Kindesmisshandlung und sexuellen Kindesmissbrauch sowie allgemein gegen Unterdrückung und Benachteiligung von Kindern sind zu erwähnen, ferner Befreiungsbewegungen sozial unterdrückter Minderheiten und Völker oder Initiativgruppen, die sich mit diesen Befreiungskämpfen solidarisierten. Im Folgenden wenden wir uns zunächst der „natural history“ zu und kehren dann zur wissenschaftlichen Traumadiskussion zurück.

      Um diese Geschichte zu schreiben, müssen wir uns vor allem mit den kulturellen Erfindungen der Menschheit befassen. Manche Rituale, Sitten und Gebräuche entstammen der Not, mit psychischer Traumatisierung zurechtzukommen. Trauerrituale, die in allen Zeiten und bei allen Völkern verbreitet sind, können hier als Beispiel gelten. Mythen, Religionen, später auch Literatur und Philosophie sind voll von Auseinandersetzung mit Leiden und Tod und dem Eindruck, der Prägewirkung, den diese bei den betroffenen Menschen hinterlässt (→ Todesprägung). Letztlich sind die Menschen in ihren kulturellen Schöpfungen bemüht, eine Antwort zu finden auf die Sinnfrage, welche Leiden, Tod, soziale Gewalt und Naturkatastrophen aufwerfen. Vor allem vom Umgang der Dichterinnen und Dichter mit diesen Problemen kann eine wissenschaftliche Psychotraumatologie lernen. Dichter haben immer wieder traumatisierende Lebensumstände beschrieben und Möglichkeiten der Betroffenen, in ihnen zu überleben. Oft hatte die Darstellung aufrüttelnde und sozial verändernde Auswirkungen. Ein Beispiel ist der Roman „Oliver Twist“ von Charles Dickens. Darin wird einmal die psychische Situation eines Jungen beschrieben, der seine Eltern verloren hat. Sozialkritisch wird zudem dargestellt, wie soziale Einrichtungen, die diese schwere Lebenslage mildern sollen, zusätzlich noch zur Erniedrigung und Traumatisierung der Betroffenen beitragen können. Viele Märchen handeln vom Umgang mit Traumen und von Möglichkeiten ihrer schrittweisen Überwindung (vgl. etwa die Untersuchung von „Prinz Eisenherz“ bei Holderegger 1993)

      Ein anderer Zugang zur Kulturpsychologie des Traumas besteht darin, das Lebenswerk kreativer Künstler, von Dichtern und Schriftstellern etwa, auf die Traumabewältigung hin zu untersuchen, die in ihrer literarischen Schöpfung zum Ausdruck kommt. Der Philosoph und Schriftsteller Jean-Paul Sartre beispielsweise hatte um das erste Lebensjahr ein schweres → Deprivationstrauma erlitten, dessen Auswirkung sich bis in seine berühmte Autobiographie „les mots“ (1965) und die Entwürfe seiner Philosophie aufzeigen lässt (Fischer 1992). Wie viele andere Künstler ist Sartre ein Beispiel für kreative Traumabewältigung. Solche Beispiele werfen ein Licht auf die soziale Funktion von Kunst und Philosophie, deren Beitrag zu einem kreativen und kulturell tradierbaren Umgang mit Traumatisierung von den Kulturwissenschaften gerade erst entdeckt wird. Aus der psychoanalytischen Literaturwissenschaft kann die Methode des „traumaanalogen Verstehens“ von Vietighoff-Scheel (1991) erwähnt werden. An Texten von Kafka zeigt die Autorin in sehr subtiler Weise Mechanismen literarischer Traumadarstellung und -verarbeitung auf. Eine Übersicht über psychoanalytische Beiträge zur Literaturtheorie und -forschung bietet das Kompendium von Pfeifer (1989). Psychologisch-historische Forschungsansätze wie etwa die „Geschichte der Kindheit“ von DeMause (1977) haben unser historisch vergleichendes und systematisches Wissen über traumatische Lebensbedingungen in der Kindheit sehr erweitert.

      An der „Ilias“, einem Kriegsbericht aus dem europäischen Altertum lässt sich zeigen, dass Homer, der „Geschichtsschreiber“ und Dichter, traumatische Reaktionen eindringlich zu schildern verstand. Shay (1991) macht darauf aufmerksam, dass die Ilias ein Kriegstrauma detailliert beschreibt und auch Wege zu seiner Überwindung aufzeigt. Der bedeutendste Held der Griechen, Achilles, entwickelt im Kampf vor Troja psychotraumatische Symptome, die recht genau denen, die wir heute kennen, entsprechen.

      Shay nennt folgende Merkmale dieser besonderen Form von Kriegstraumatisierung: ein Erlebnis von Verrat oder ein Verstoß gegen das, was der Soldat als sein gutes Recht betrachtet; enttäuschter Rückzug auf einen kleinen Kreis von Freunden und Kameraden; Trauer- und Schuldgefühle wegen des Todes eines besonders befreundeten Kameraden; Lust auf Vergeltung; nicht mehr heimkehren wollen; sich wie tot fühlen; dann eine berserkerartige Raserei mit Entehrung des Feindes und extremen Grausamkeiten. Einzelne Symptome oder auch das gesamte Syndrom finden sich gehäuft in den Berichten von Kriegsteilnehmern, die nach ihrem Einsatz ein psychotraumatisches Belastungssyndrom entwickeln.

      Achilles gerät mit dem Heerführer der Griechen, Agamemnon, in Streit, nachdem ihm dieser seine Lieblingssklavin Briseis genommen hatte, welche Achilles für besondere Tapferkeit als Beute zugesprochen worden war. Achilles zieht sich schmollend zurück und pflegt eine intensive Freundschaft mit Patroklos. Als dann die Griechen von den Trojanern immer stärker in die Defensive gedrängt werden, bittet Agamemnon den Achilles als den tapfersten und bewährtesten Krieger, seinen Rückzug aufzugeben, in die Schlacht einzugreifen und das griechische Heer zu retten. Achilles weigert sich und lässt statt dessen seinen Freund Patroklos kämpfen. Diesem gelingt es, die Trojaner zurückzuschlagen. Schließlich wird Patroklos jedoch von Hektor, dem tapfersten Kriegshelden der Trojaner getötet.

      Als Achilles die Botschaft von Patroklos̓ Tod überbracht wird, verfällt er in einen affektiven Ausnahmezustand mit extremen Schuldgefühlen, Selbstvorwürfen und heftiger Trauer, den Homer folgendermaßen beschreibt:

      „Patroklos liegt nun tot und sie kämpften bereits um den Leichnam. Nackt wie er ist; denn die Waffen besitzt der geschmeidige Hektor. Sprach̓s (der Bote) und jenen (Achilles) umfing die finstere Wolke der Trauer. Gleich mit den beiden Händen den Staub, den geschwärzten ergreifend, überstreut er den Kopf und entstellt er sein liebliches Antlitz. Asche haftete rings am Nektar duftenden Kleide. Selbst aber lag er groß, lang niedergestreckt in dem Staube, raufte sein Haar und beschmutzt̓ es sogleich mit den eigenen Händen“ (Homer, Illias, 18. Gesang, Vers 20, Übers. Hans Rupe: 1990, 387).

      Seiner Mutter Tetis, die ihn trösten will, schwört Achilles, nicht eher aus dem Kriege zurückzukehren, bis er den Tod seines Freundes Patroklos an Hektor gerächt habe. Er verfällt darauf in eine raptusartige, berserkerhafte Raserei, worin er alle Rücksichten vergisst und viele Trojaner tötet, schließlich auch Hektor, den Mörder seines Freundes.

      Shay beschreibt diesen berserkerhaften Ausnahmezustand als Verlust von Furcht und jedem Gefühl eigener Verletzlichkeit; es wird keine Rücksicht auf die eigene Sicherheit genommen; eine übermenschliche Kraft und Ausdauer entwickelt sich; Wut, Grausamkeit ohne Einhalten oder Unterscheidungsfähigkeit; eine Übererregtheit des autonomen Nervensystems, von den Betroffenen oft beschrieben als „Adrenalinrausch“ oder „als käme Elektrizität aus mir heraus“ (570).

      So ergeht es auch dem Achilles. Er steigert sich immer weiter in sein rauschhaftes Racheerleben hinein und scheut nicht einmal davor zurück, den Leichnam des getöteten Gegners, des Helden Hektor zu entehren und ihm die Bestattung zu verweigern. Schließlich erscheint Hektors Vater Priamos, der schon dem Tode nahe ist und bittet Achilles, seinen Sohn herauszugeben. Nach langer Debatte geht dieser schließlich auf die Bitte ein und kehrt so zur Normalität der damaligen Kriegssitten zurück, in denen die Entehrung des toten Feindes dem stärksten Tabu unterlag. Jetzt gibt Achilles auch seinen sozialen Rückzug auf und wird wieder zu einem „normalen“ griechischen Krieger.

      Achilles̓ gefährlicher Ausnahmezustand begann demnach mit einer Verletzung von Regeln und Gebräuchen, die im damaligen Griechenland heilig waren. Shay


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