Lehrbuch der Psychotraumatologie. Gottfried Fischer
Gebiet dar, das die chirurgische Traumatologie als ein besonderes Fach einschließt. Er kommt zu folgender Definition:
„Traumatologie ist das Studium der natürlichen und vom Menschen hervorgerufenen Traumata (vom ,natürlichen‘ Trauma, von Unfällen und Erdbeben bis hin zu den Schrecken unbeabsichtigter oder auch beabsichtigter menschlicher Grausamkeit), von deren sozialen und psychobiologischen Folgen und den prädiktiven/präventiven/interventionistischen Regeln, die sich aus diesem Studium ergeben“ (434).
Donovan betont, dass die Traumatologie seiner Meinung nach ein neues, in sich zusammenhängendes Forschungsfeld darstelle und als solches betrieben werden sollte. Er führt einige Ansätze an, die als Vorläufer dieser künftig zu entwickelnden Disziplin betrachtet werden können, die aber bezeichnenderweise im etablierten Wissenschaftsbetrieb mehr oder weniger untergegangen seien, so etwa die Erforschung traumatischer Sozialisationserfahrungen, die in der modernen „biologischen Psychiatrie“ heute kaum noch Beachtung finde. Ein ähnliches Schicksal hätten viele Bereiche traumatologischer Forschung erfahren. In verschiedenen Disziplinen führen sie eine Rand- oder Schattenexistenz. Sie haben sich bisher nicht zu einer konsistenten Theorie und Bestimmung eines Forschungsfeldes zusammengefunden. Desto notwendiger erscheint Donovan ein transdisziplinärer Forschungsansatz „Traumatologie“, der in sehr unterschiedliche Felder hineinreicht. Traumatologie sei notwendigerweise so komplex, dass sie sehr unterschiedliche Bereiche von Forschung und klinischer Erfahrung einbeziehen müsse, wie etwa: „Cognitive studies; developmental, clinical and research psychology; medicine, anthropology; epidemiology; and even education research“ (loc. zit.).
Eine so umfassende Konzeption des neuen Forschungsgebietes blieb nicht unwidersprochen. Schnitt (1993) argumentiert zunächst, dass der Begriff „Traumatologie“ schon von der Chirurgie belegt sei. Er äußert im Übrigen die Befürchtung, eine neue Bezeichnung und die Abgrenzung eines neuen Forschungsgebietes könne die von Donovan beklagte Aufsplitterung des traumatologischen Wissens sogar noch weiter fördern und zu Separatismus führen. In seiner Erwiderung hält Donovan (1993) an Programmatik und Namen der neuen Disziplin fest und betont vor allem die Chance, bisher verstreute Wissensbestände zu integrieren. Ein weiterer Diskussionspunkt ist die Frage, ob angesichts der Komplexität des Wissens und der Dringlichkeit seiner praktischen Umsetzung nicht möglicherweise auch eine eigene Berufsgruppe ausgebildet werden sollte. Donovan beurteilt eine solche Möglichkeit grundsätzlich positiv, während Schnitt Dilettantismus befürchtet und den Berufsabschluss in einer traditionellen Disziplin als Voraussetzung für praktische traumatologische Tätigkeit betrachtet.
Zumindest für den deutschen Sprachraum scheint es uns sinnvoll zu sein, den Ausdruck Psycho-Traumatologie zu verwenden, unter anderem in Abgrenzung von der Chirurgischen Traumatologie. In ihrem Lehrbuch beschreiben Kuner und Schlosser (1988) die Geschichte der chirurgischen Traumatologie folgendermaßen:
„Die Erkennung und Behandlung von Unfall- und Verletzungsfolgen gehört zu den ältesten Zweigen ärztlicher Tätigkeit. Verletzungen des Menschen durch Unfälle als Folge menschlicher Auseinandersetzungen sind so alt wie die Menschheit selbst, und in der Notwendigkeit, dem verletzten Mitmenschen zu helfen, liegt die Wurzel jeder Traumatologie“.
Psycho-Traumatologie, die Untersuchung und Behandlung seelischer Verletzungen und ihrer Folgen hat sicher ein ähnliches therapeutisches Ziel wie die chirurgische Traumatologie. Es ist aber aufschlussreich, dass sich eine solche Disziplin erst heute, also sehr viel später als die Wissenschaft von den körperlichen Wunden zu bilden beginnt. Haben die Menschen ihre seelischen Wunden bisher vernachlässigt, vielleicht schon deshalb, weil sie im Unterschied zu den körperlichen unsichtbar sind? Wir kommen im Folgenden Abschnitt auf diese Frage zurück. Jedenfalls stellt eine explizit psychologische und psychosomatische Traumatologie in der Geschichte der Medizin ein Novum dar. Dies sollte in der Bezeichnung auch zum Ausdruck kommen und terminologisch nicht mit der traditionellen medizinischen Traumatologie konfundiert werden. Eine Gefahr dieser Begriffswahl besteht vielleicht darin, das Gebiet zu stark zu verengen, so dass der fächerübergreifende Bezug, den Donovan mit seiner Programmatik fördern möchte, gefährdet wird. Diese Gefahr erscheint uns allerdings geringer als die komplementäre einer erneuten Vernachlässigung der menschlichen Erlebnissphäre, wie sie leider in der Medizin und sogar in der Psychologie lange Zeit zu beklagen war. Als terminologisches Anhängsel einer erweiterten medizinischen „Traumatologie“ sähe die neue Disziplin einem ungewissen oder, angesichts der bisherigen Erfahrungen, wohl sogar gewissen Schicksal entgegen. Der Ausdruck Psycho-Traumatologie soll die Aufmerksamkeit auf die menschliche Erlebnissphäre richten. Dabei dürfen die somato-psychischen und psycho-somatischen Wechselbeziehungen natürlich nicht vernachlässigt werden. Ebenso wenig die sozialen Bezüge der menschlichen Erfahrungswelt. Die Verletzungen jedoch, von denen das neue Gebiet handeln soll, liegen nicht primär im körperlichen und auch nicht vage in einem irgendwie konzipierten „sozialen Bereich“. Betroffen ist auch keine behavioristische „black-box“ oder sonst ein „Konstrukt“, sondern das verletzbare, sich-empfindende und sich-verhaltende menschliche Individuum, wenn es in seinen elementaren Lebensbedürfnissen bedroht und verletzt, in seiner menschlichen Würde und Freiheit missachtet wird. Psychologie als die Wissenschaft vom menschlichen Erleben und Verhalten kann hier zentrale Beiträge leisten, wenn sie sich nicht schon im Vorhinein ihres eigentlichen Gegenstandes entledigt, wie dies der → Behaviorismus tat. Von einer „Verhaltens-Traumatologie“ zu reden, wäre zumindest im deutschen Sprachverständnis einigermaßen widersinnig. Das Festhalten dagegen am Bezugspunkt einer je besonderen, individuellen Erlebnissphäre schafft erst die begriffliche Voraussetzung für eine Lehre von den psychischen Verletzungen, ihrem „natürlichen“, unbehandelten Verlauf und den Möglichkeiten ihrer therapeutischen Beeinflussung. Wie in den folgenden Abschnitten noch deutlich wird, verstehen wir den Ausdruck „Psycho-“ in Psychotraumatologie im Rahmen eines „Mehr-Ebenen-Konzepts“ von der psychosozialen und physischen Wirklichkeit. Die psychische Ebene wird darin als eine Differenzierungsform der körperlich-physischen gesehen. Sie stellt zugleich eine Individuierung, eine Besonderung der gesellschaftlich allgemeinen Kommunikations- und Beziehungsformen dar. Von daher muss die Psychotraumatologie unter sozialen und physiologisch-somatischen Gesichtspunkten zugleich betrieben werden. Ihr zentraler Bezugspunkt ist jedoch die menschliche Erlebnissphäre, die nicht weniger verletzbar, in ihren Funktions- und Regulationsbedingungen nicht weniger stör- und „kränkbar“ ist als die körperliche Ebene des psychophysischen menschlichen Weltverhältnisses.
Mit Donovan sind auch wir der Meinung, dass das „Stress“-Konzept, so große Verdienste es in Psychologie, Psychosomatik und innerer Medizin hat, nicht ausreicht, um das zu bezeichnen, was speziell den Gegenstand einer psychosozialen und psychosomatischen Traumatologie bildet: die Störung bzw. Zerstörung psychischer Strukturen und Funktionen, die in gewissem Sinne analog zu jenen Zerstörungen gesehen werden kann, mit denen sich die chirurgische Traumatologie befasst. Handelt es sich beim Vergleich von körperlichen und seelischen Verletzungen nur um ein Wortspiel, allenfalls eine Metapher? Oder können wir von strukturellen Entsprechungen beider Bereiche ausgehen? Und wenn, wo beginnt und wo endet eine solche Analogie? Mit diesen Fragen werden wir uns im Folgenden Abschnitt befassen.
1.1.1 Psychisches Trauma in einem polyätiologischen Modell
Wir wissen heute, dass psychotraumatische Erfahrungen zu seelischen Folgeschäden führen können, ohne dass zusätzliche Bedingungsfaktoren erforderlich sind. Psychische Traumatisierung ist demnach als eine eigenständige ätiologische (von altgr. = ursächliche) Kategorie der psychologischen Medizin zu betrachten. Darüber hinaus sollten bei Verursachung psychischer Störungen mindestens noch drei weitere typische Einflussgrößen berücksichtigt werden: Übersozialisation (z. B. zu strenge, rigide Erziehung), Untersozialisation (z. B. Verwöhnung oder Vernachlässigung) sowie biologische Faktoren genetisch angeborener, aber auch früh erworbener Art. Abbildung 1 gibt eine Übersicht über ein polyätiologisches Modell, das vier ätiologische Einflusssphären und ihre wechselseitigen Verflechtungen umfasst. Im Folgenden werden die einzelnen Größen und ihr Zusammenspiel diskutiert.
Psychotraumatische Einflüsse. Traumastörungen bilden eine der wenigen nosologischen (von altrg. nosos = Krankheit und logos = Lehre: Lehre von den Krankheitsbildern) Einheiten, deren Verursachung bekannt