Lehrbuch der Psychotraumatologie. Gottfried Fischer
diese Prozesse gezielt unterstützen bzw. Fehlentwicklungen rechtzeitig erkennen und verhindern. Auf die psychische Traumatologie warten Aufgaben, die nicht geringer sind als in der somatischen Traumatologie und Krankheitslehre.
Gibt es psychische Analogien zur Selbstheilungstendenz des Organismus? Wie versucht der Organismus, schädliche psychische Reize, die seine Abwehr durchbrochen haben, zu eliminieren? Grundsätzlich wäre es nicht verwunderlich, wenn sich bestimmte Selbstheilungsstrategien wie etwa die „Sequestrierung“ als Versuch, einen eingedrungenen Fremdkörper einzukapseln und zu eliminieren, auch auf der psycho-physiologischen Ebene wiederfinden ließen. Ist vielleicht der Trauervorgang einem Eliminierungsprozess analog zu verstehen, wie ihn das Eitern einer Wunde darstellt? Wird – wie in einer psychoanalytischen Metapher – ein Introjekt durch Trauerarbeit aus dem psychischen Organismus gleichsam „ausgeschieden“?
Die Beispiele verdeutlichen vielleicht, dass die Analogie zwischen körperlicher und psychischer Traumatologie durchaus fruchtbar sein kann. Wir müssen allerdings auch auf ihre Grenzen aufmerksam werden. Darauf stoßen wir beispielsweise, wenn wir fragen, weshalb die chirurgische Traumatologie ein wissenschaftliches Fach ist, das auf eine mehrtausendjährige Geschichte zurückblickt, während Psychotraumatologie sich immer noch konstituiert. Wir möchten hierfür eine Erklärungshypothese vorschlagen, die an die sinnliche Gegebenheitsweise körperlicher versus seelischer Verletzungen anknüpft: körperliche Verletzungen kann man sehen und anfassen (behandeln), seelische dagegen nicht. Körperliche haben eine physische Repräsentanz, seelische Verletzungen sind unsichtbar – wenn darum auch nicht weniger real und wirksam als die körperlichen Verletzungen und in letzter Zeit durch Bildgebungsverfahren auch physiologisch nachweisbar.
Nun fällt es den Menschen wohl immer schon leichter, sichtbare Phänomene als wirksam einzuschätzen im Vergleich mit unsichtbaren. Möglicherweise ist die Menschheit in ihrer geistesgeschichtlichen Entwicklung noch nicht sehr lange dazu im Stande, auch unsichtbare Größen wissenschaftlich zu erforschen. Piaget (1947) hat in seiner „genetischen Erkenntnistheorie“ gezeigt, dass vor allem der menschliche Egozentrismus verhindert, die eigene psychische Aktivität als solche zu erfassen. Das Kind in den so genannten voroperationalen und frühen operationalen Stadien (bis 7. Lebensjahr etwa) ist auf die Welt der sichtbaren und manipulierbaren Dinge ausgerichtet. Seine Ontologie beschränkt sich auf eine naive Physik. Seelische Phänomene können in dieser Welt nicht erfasst werden. Sichtbar sind die Gegenstände und Handlungen, nicht aber das Sehen selbst. Die Wahrnehmung als solche ist unsichtbar und daher weniger „real“ – für Kinder oder auch für Erwachsene, die auf das konkret-operationale Stadium der kognitiven Entwicklung fixiert sind. Watson, der Begründer des amerikanischen Behaviorismus, hat die Forschungsstrategie propagiert, alle „mentalen“ Begriffe in Verhaltensbegriffe zu überführen. Mit dieser kognitiven Regression hatte der Behaviorismus als herrschende Richtung in der westlichen Psychologie (analog zu der Pawlowschen Variante von „Psychologie“ im Stalinismus) lange Zeit den psychologischen Gegenstand, nämlich das „unsichtbare“ psychische Erlebniszentrum aus der Wissenschaft verbannt. Die seelischen Verletzungen blieben damit ebenfalls unsichtbar. Auch im täglichen Leben begegnen uns viele Menschen, die sich in einem „vorpsychologischen“ Stadium ihrer seelischen Entwicklung befinden. Sie pflegen manchmal heftige Vorurteile gegen die „Psychologie“. Diese sei keine Wissenschaft und könne auch keine werden, da ihr Gegenstand „nicht greifbar“ sei.
Das naive „Alltagsbewusstsein“ ist zumeist auf die Gegenstände der äußeren Wahrnehmung gerichtet und nicht auf seine eigene Tätigkeit des Wahrnehmens, Beurteilens und Denkens selbst. Die Einsicht in die Realität seelischer Verletzungen setzt jedoch die Einsicht in die Realität seelischer Vorgänge, Prozesse und Strukturen voraus. Zu dieser Erkenntnis gelangen wir, wenn wir uns fragen, was ist eigentlich „realer“, der Gegenstand des Denkens oder das Denken selbst? Oder, um ein anderes Thema der allgemeinen Psychologie anzusprechen: was ist „realer“, die Wahrnehmung oder der Wahrnehmungsgegenstand? Hier wird deutlich, dass beides gar nicht voneinander getrennt werden kann. Die Wahrnehmung ist ohne den Wahrnehmungsgegenstand nicht denkbar, aber auch umgekehrt setzt jeder Wahrnehmungsgegenstand als solcher ein Subjekt voraus, das den Wahrnehmungsakt ausführt. Der subjektive Faktor, die Konstitution des Wahrnehmungsgegenstandes im Akt der Wahrnehmung ist aber häufig demjenigen unzugänglich, der in einer „naiv“ empirischen, alltäglichen Einstellung auf die Gegenstände seiner Wahrnehmung und Handlungen ausgerichtet ist und dabei sich als den Handelnden und Wahrnehmenden vergisst.
Diese reibungslose Ausrichtung auf Gegenstände und alltägliche Geschäfte wird nun durch seelische Verletzungen gefährdet. Eine Abwehrstrategie psychischer Traumatisierung besteht im Ignorieren und einer besonders intensiven Zuwendung zu den äußeren Geschäften des Alltagslebens. Das verletzte psychische System/die psychisch verletzte Persönlichkeit sucht die Verletzung nach Möglichkeit auszublenden und betreibt „business as usual“. Dieser Umgang mit psychischen Verletzungen und Kränkungen findet sich bei vielen traumatisierten Persönlichkeiten. Er scheint aber auch charakteristisch zu sein für den Umgang in der täglichen Lebenswelt mit dem Problem seelischer Verletzungen und spiegelt sich in einem „vulgärmaterialistischen“ Wissenschaftsverständnis ebenso wider wie im methodologischen Behaviorismus, einer Forschungsstrategie, die von Erlebnisphänomenen grundsätzlich absehen zu können glaubt. Das psychische Erlebniszentrum als Zentrum zugleich der seelischen Schmerzempfindung wird für unerkennbar, zur „black box“, erklärt. So beruhen auch manche Konzepte der in sich ja sehr heterogenen „wissenschaftlichen Gemeinschaft“ auf Abwehrvorgängen gegen seelische Verletzungen und bedienen sich dabei ähnlicher Abwehrstrategien, wie verletzte Individuen, die sich reflexhaft vor der Wahrnehmung seelischer Schmerzen schützen.
„Unsichtbarkeit“ des Gegenstandes und reflektorische Abwehr erschweren manchen Menschen den Zugang zur Psychotraumatologie als einer Wissenschaft, die speziell die Verletzlichkeit psychologischer und psychosozialer Systeme untersucht. Psychotraumatologie muss aber vor allem gewisse Eigenheiten des seelischen Systems berücksichtigen, die sich auf der Ebene der physikalischen und biologischen Systeme im engeren Sinne noch nicht antreffen lassen. Solche Eigenheiten lassen sich beschreiben mit dem Begriff einer Regel bzw. Norm, die über verschiedene ontologische Ebenen hinweg, von der physiko-chemischen über die biologische bis hin zur psychosozialen, bestimmte Besonderheiten annimmt. Dies wird deutlich, wenn wir als das Gegenstück zu Norm den Begriff des Abnormalen oder Krankhaften verwenden. Krankheit lässt sich als Abweichung definieren von einer Regel oder Norm, die ihrerseits wiederum das gesunde oder normale Funktionieren des Organismus bzw. des Individuums festlegt. Nun deckt dieser Begriff der Regel oder Norm sehr unterschiedliche Phänomene ab, je nachdem wie wir ihn definieren und auf welchen ontologischen Bereich wir ihn anwenden. Tabelle 1 gibt eine Übersicht über Typen von Normen und ordnet sie verschiedenen ontologischen Ebenen zu.
Tabelle 1: Normen und Ebenen der Wirklichkeit
Die einzelnen Elemente von Tabelle 1 wollen wir schrittweise erörtern. Zunächst zur Norm. Dabei unterscheiden wir drei unterschiedliche Normbegriffe: 1. die funktionelle Norm; 2. die statistische Norm; 3. die Idealnorm. Diese Unterscheidung ist in psychosozialen Fächern, wie der medizinischen oder klinischen Psychologie, weitgehend geläufig. Funktionelle oder strukturelle Normen vergleichen einen Ist-Zustand mit einem vorgegebenen Sollwert. Hierzu gehören z. B. die Blutdruckregulierung und viele andere Normwerte der körperlich-biologischen Selbstregulierung. Bei Abweichung von diesen Normwerten, bei einem Blutdruck über 140 zu 90 (systolisch vs. diastolisch), liegt ein Verdacht auf Hypertonie nahe, auf passager oder chronisch erhöhten Blutdruck. Dieser Wert kann ein Alarmsignal sein, das ein Eingreifen verlangt.
Die meisten funktionalen Normen der biologischen Regulationsebene weisen größere interindividuelle Schwankungen auf innerhalb einer noch als „physiologisch“ zu bezeichnenden Schwankungsbreite. Funktionelle Normen beruhen im subatomaren Bereich auf statistischen Normen (2). Die funktionelle Norm setzt aber der statistischen Schwankungsbreite klare Grenzen. Eine Abweichung von diesen Grenzwerten ist dann potenziell pathologisch.
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