Lehrbuch der Psychotraumatologie. Gottfried Fischer
modifizierenden Einfluss aus, es ist bisher aber nicht gelungen, einzelne Gene zu identifizieren (Cornelis 2010). Dem psychotraumatischen Einflussfaktor entspricht nosologisch das Traumaspektrum psychischer Störungen, das über das basale PTBS hinaus die Syndrome der speziellen Psychotraumatologie umfasst sowie dissoziative Störungen, einen Teil der Borderline-Störungen und somatoforme Störungsbilder. Neben einer spezifischen Ätiologie weisen Traumastörungen eine spezifische Pathogenese auf (von altgr. pathos = Krankheit und genesis = Entstehung: Entstehungsverlauf eines Störungsbildes), die sich u. a. aus der Dynamik von Traumaschema und traumakompensatorischem System ergibt.
Übersozialisation. Dieser Einflussfaktor entspricht einem übermäßig strengen, rigiden und einengenden Erziehungsstil. Die Vitalität der Persönlichkeit wird unterdrückt. Triebimpulse und Phantasiesysteme werden durch die rigide Prägeform gewissermaßen „ausgestanzt“. Traditionell konservative Sozialisationsmuster üben hier ihren Einfluss aus, ebenso gibt es modernere, streng leistungsbezogene, aber nicht minder asketische Varianten dieses Sozialisationstyps. Die Pathogenese lässt sich oft nach dem psychodynamischen (Trieb-) Wunsch/Abwehr-Modell beschreiben. Es ließe sich zwar diskutieren, ob und wieweit ein übertrieben strenger und rigider Erziehungsstil im Ganzen als „traumatisch“ bezeichnet werden kann. Jedoch ist von einer Überdehnung des Traumabegriffs abzuraten, da traumatische Ereignisse und Lebensumstände im engeren Sinne unter dieser Voraussetzung ihre Besonderheit verlören und Trauma, ähnlich wie Stress, zu einem „Passepartout“ geriete. Allerdings besteht eine „Schnittmenge“ (A–B) zwischen beiden Bereichen, in die z. B. ein übersozialisativer Erziehungsstil sicher dann hineinreicht, wenn rigide Erziehungsnormen mit brutalen körperlichen Strafen durchgesetzt werden.
Abbildung 1: Polyätiologisches Modell psychischer Störungen (Fischer 2000b, 168). Die ätiologischen Einflussgrößen sind durch vier Kreise veranschaulicht, die bilaterale Schnittmengen aufweisen sowie eine Gesamtschnittmenge im Mittelbereich.
Vom Störungsbild her entsteht unter den genannten Bedingungen die klassische neurotische Persönlichkeit mit ausgeprägter Identität, vertikaler Abwehrorganisation, relativ kohärentem Ich-Selbst-System, die an der übermäßigen Verdrängung vitaler Impulse neurotisch erkranken kann. Es wäre zu untersuchen, wieweit die traditionellen Geschlechtsrollenstereotypen neurotogene Faktoren enthalten, möglicherweise unterschiedlich für beide Geschlechter. Die traditionell von Mädchen erwartete Bravheit, Sittsamkeit, altruistische Hilfsbereitschaft und Unterordnung enthält zweifellos pathogene Elemente aus dieser ätiologischen Einflusssphäre.
Biologisch angeboren und biologisch erworben. Erbgenetische Faktoren verbinden sich mit den übrigen ätiologischen Strömungen in unterschiedlicher Weise, beispielsweise im Sinne der von Freud formulierten „Ergänzungsreihe“ zwischen somatischen und psychischen Einflussgrößen. Die geringste Rolle scheint die genetische Disposition bei psychotraumatischen Situationsfaktoren von mittlerem und hohem Schweregrad zu spielen. Neben den genetisch angeborenen Dispositionen rücken erworbene, gleichwohl physiologisch verankerte Dispositionen neuerdings immer deutlicher ins Blickfeld. Dazu gehören einmal die verschiedenen zentralnervösen, neuromuskulären und neurovegetativen Folgen des Traumas, zum anderen in der Kindheit früh erworbene Veränderungen hormoneller und neuroendokriner Regulationssysteme, z. B. eine Dysregulation des Serotoninhaushalts infolge frühkindlicher Deprivation, die für depressive Erkrankungen im Erwachsenenalter disponiert (vgl. Abschnitt 3.4.1). Bei den erworbenen, traumabedingten physiologischen Dispositionen steht die Forschung erst in den Anfängen.
Untersozialisation. Prototyp sind sog. „verwöhnte“ Kinder, die eine „Laisser-faire“-Erziehung und zu geringe oder auch einseitige normative Strukturierung erfahren. Ein Beispiel sind Eltern, die ihren Kindern immer „Recht geben“, wenn es zu Konflikten mit anderen Kindern oder außerfamiliären Personen oder Instanzen kommt, unabhängig vom realen Konfliktanteil der Kinder. So entsteht ein Mangel an Empathie, Normenverständnis und Verständnis für die fundamentale „Wechselseitigkeit“ (vgl. Fischer 1981) sozialer Beziehungen, die den Kern des kommunikativen Realitätsprinzips (Uexküll u. Wesiack 1988) bildet. Parallel entsteht ein Lerndefizit in Bezug auf soziale Fertigkeiten, die einen wechselseitig befriedigenden Umgang mit anderen Kindern oder außerfamiliären Erwachsenen gewährleisten. Kommen weitere negative Bedingungen hinzu, so kann dieses Sozialisationsmuster in eine dissoziale oder antisoziale Karriere münden. Auch bei diesem Sozialisationstyp können psychotraumatische Faktoren hinzutreten. Sie tragen dann zu einer Verschärfung der Verhaltensdefizite und antisozialen Tendenzen bei. Auch eine erbgenetische Disposition wird diskutiert, welche zu Veränderungen in der Verarbeitung von Angst und Bedrohung und einer veränderten „startle-response“ (= angeborene Schreckreaktion auf ungewöhnliche Umgebungsreize) führt (Patrick 1993, Vaidyanathan 2011, Newman 2010). Daraus resultierende Impulsivität und Schwererreichbarkeit durch Erziehungsmaßnahmen, ist beim „harten Kern“ der antisozialen, soziopathischen Persönlichkeit zu berücksichtigen und kann sich im Sinne einer Interaktion zwischen Erbfaktoren und Umwelteinflüssen aufschaukeln.
Es ist nun aufschlussreich, diese 4 ätiopathogenetischen Muster zu therapeutischen Vorgehensweisen in Beziehung zu setzen, die sich in der Geschichte der Psychotherapie „spontan“ herausgebildet haben. Vereinfachend gesagt, hat die Freudsche Psychoanalyse eine besondere Nähe zu Feld B, die Verhaltenstherapie, schon ihrer historischen Entwicklung aus der Pädagogik nach, zu Feld D, Psychopharmakotherapie und körperbezogene Psychotherapie zu Feld C und Traumatherapie zu Feld A. Insofern bietet die Übersicht zugleich Anhaltspunkte für ein an einer differenziellen Ätiopathogenese orientiertes Vorgehen in der Psychotherapie. Wir kommen in Kapitel 4 darauf zurück. An dieser Stelle kann festgehalten werden:
Psychotraumatologie erforscht und behandelt eine ätiologisch relevante und pathogenetisch spezifische Gruppe von Störungsbildern der psychologischen Medizin. Als weitere ätiologische Einflussgrößen für die Entstehung psychischer Störungen sind Über- und Untersozialisation sowie angeborene oder erworbene biologische Dispositionen zu berücksichtigen.
1.2 Seelische und körperliche Verletzungen: Gemeinsamkeiten und Unterschiede
In einer ersten Arbeitsdefinition können wir psychisches Trauma als seelische Verletzung verstehen (von dem griechischen Wort traûma = Wunde, Verletzung). Wie die verschiedenen somatischen Systeme des Menschen in ihrer Widerstandskraft überfordert werden können, so kann auch das seelische System durch punktuelle oder dauerhafte Belastungen in seinen Bewältigungsmöglichkeiten überfordert und schließlich traumatisiert/verletzt werden. Von dem, was geschieht, wenn eine solche Verletzung eingetreten ist, oder was zur Heilung geschehen sollte, davon handelt eine psychologische und psychosomatische Traumatologie als Lehre von Struktur, Verlauf und Behandlungsmöglichkeiten seelischer Verletzungen und ihrer Folgen. Die Analogie zwischen seelischen und körperlichen Verletzungen ist in einigen umgangssprachlichen Wendungen ausgedrückt, wenn wir etwa sagen: „das hat mich sehr verletzt“ oder „getroffen“ usf. Hier werden bildlich/metaphorisch seelische und körperliche Verletzungen miteinander gleichgesetzt. „Etwas macht mich kaputt, zerreißt mich in Stücke“, oder jemand fühlt sich „gekränkt“ sind weitere Beispiele. Die Metaphern verdeutlichen, dass wir seelische Verletzungen sehr stark vom körperlichen Erleben her interpretieren, dass – wie Freud formuliert hat – das Körper-Ich der Kern auch des psychischen Ich, des seelischen Erlebenszentrums ist.
Es gibt eine zweite Gruppe von umgangssprachlichen Wendungen zur Analogie zwischen körperlichen und seelischen Verletzungen, so etwa: „Zeit heilt alle Wunden“. Hier sind die körperlichen und die seelischen Wunden gleichgesetzt. Wir wissen aus dem Umgang mit körperlichen Erkrankungen/Wunden, dass Heilvorgänge Zeit brauchen. Diese Erfahrung wird auf seelische Verletzungen übertragen. Das Gegenteil stimmt aber auch: Zeit allein heilt nicht alle Wunden, weder die körperlichen noch die seelischen. Vielleicht hat der Organismus eigene, übergreifende Selbstheilungsstrategien entwickelt, die für den körperlichen Bereich ebenso gelten wie für den seelischen. Wahrscheinlich müssen wir die seelischen Verletzungen und deren natürliche Wundheilungsmechanismen mit gleicher Aufmerksamkeit studieren wie die körperlichen. Wir lernen dann unterscheiden nach der Art des verletzten seelischen