Lehrbuch der Psychotraumatologie. Gottfried Fischer
stellt es einen „Wundheilungsmechanismus“ der verletzten Psyche dar. Wie das Situationskreismodell in Bezug auf das peritraumatische Erleben eröffnet es einen ersten Zugang zum psychobiologischen Sinn verschiedener psychotraumatologischer Symptome und Syndrome. Diese lassen sich als „Entgleisung“ von Phasen eines natürlichen Selbstheilungsprozesses oder als Fixierung dieser Phasen verstehen.
Der Verarbeitungszyklus kann in jeder Phase entgleisen oder „einfrieren“. Unter welchen näheren Bedingungen dies geschieht, ist eine interessante, bislang unbeantwortete Forschungsfrage. Einer Fixierung z. B. in Phase II, die einer generellen Abstumpfung mit „frozen states“ und psychosomatischer Symptomatik entspricht, kann ein positiver Rückkopplungskreis zwischen verzerrter Erinnerung an die traumatische Situation und Abwehr zugrunde liegen. Je unzugänglicher die Erinnerung ist, desto bedrohlicher wird sie erlebt, desto wichtiger wird zugleich die Abwehrform der Erinnerungs- und Affektvermeidung. Das therapeutische Vorgehen sollte dann gezielt auf die Unterbrechung und Auflösung solcher Regelkreise gerichtet sein.
Eine andere Form der Stagnation im Verarbeitungszyklus kann sich daraus ergeben, dass die traumatische Situation unterschwellig fortbesteht. Dies ist bei vielen Betroffenen mit einer Victimisierungserfahrung der Fall. Unser → Verlaufsmodell der psychischen Traumatisierung geht von der Annahme aus, dass der Prozess der Traumaverarbeitung besonders in diesen Fällen auch sozialer Natur ist. Wird den Opfern nicht jene Anerkennung und Unterstützung zuteil, die von ihrem Gerechtigkeitsempfinden her angebracht erscheint, so kann sich das erschütterte Selbst- und Weltverständnis nicht regenerieren. Das Trauma bleibt „unfasslich“. Die Betroffenen fühlen sich fremd in einer sozialen Welt, die das Unrecht, das ihnen widerfuhr als solches nicht anerkennt. Auch durch – äußerlich betrachtet – geringe „Dosen“ von Retraumatisierung kann der Erholungsprozess unterbrochen werden. Die Betroffenen verlieren dann die Hoffnung auf einen relativen Abschluss des Verarbeitungszyklus und eine Restitution ihres erschütterten Weltverständnisses. In diesem Falle geht die traumatische Reaktion, entsprechend unserem Verlaufsmodell der psychischen Traumatisierung, in die dritte Phase über, den traumatischen Prozess (im Folgenden Kapitel).
Allgemein sind 3 unterschiedliche Ausgänge der postexpositorischen Reaktion denkbar: A) deren Abschluss im Sinne der „completion-tendency“, B) vorzeitige Unterbrechung des Verarbeitungsprozesses oder C) chronisches Fortbestehen der traumatischen Reaktion. Im ersten Fall ist es der Persönlichkeit gelungen, die traumatische Erfahrung mit ihrem Selbst- und Weltverständnis in Einklang zu bringen. Es besteht keine Neigung mehr, in unrealistischer Weise Schuld zuzuschreiben oder eine Wiederkehr des Traumas zu erwarten. Es bestehen keine Erinnerungsverzerrungen oder Abwehrprozesse. Reizkonstellationen, die an das Trauma erinnern oder traumabezogene Stimmungslagen können zugelassen und in ihrer Bedeutung erkannt werden. Personen, die ihre traumatische Erfahrung erfolgreich durchgearbeitet haben, sprechen mit adäquatem Affekt (z. B. Empörung) von den Erlebnissen und sind in der Lage, einen vollständigen Bericht zu geben.
Personen (B), die den Verarbeitungsprozess vorzeitig unterbrechen, zeigen zwar nach einiger Zeit keine Symptome mehr, bleiben aber untergründig mit der traumatischen Erfahrung beschäftigt. Sie zeigen Erinnerungsverzerrungen und reagieren auf traumabezogene Reizkonstellationen mit Schrecken und intensivem Vermeidungsverhalten. Eine erhöhte Somatisierungsneigung ist charakteristisch. Zu den disponierenden Faktoren gehören u. a. eine verstärkte Tendenz zu Verleugnung und Verdrängung, eine unrealistisch optimistische Weltsicht (Myers u. Brewin 1994; 1995) sowie ausgeprägte dissoziative Neigungen. In Abhängigkeit von sehr unterschiedlichen traumatischen Situationen und dem Lebensalter bei der traumatischen Erfahrung ergeben sich zahlreiche „vorzeitig beendete“ Verläufe und entsprechende Varianten des traumatischen Prozesses, den wir im Folgenden Abschnitt näher untersuchen werden.
Chronisches Fortbestehen der traumatischen Reaktion (C) ist vor allem nach Extremtraumatisierung zu beobachten und entspricht dem chronischen und dem → komplexen PTBS.
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