Lehrbuch der Psychotraumatologie. Gottfried Fischer

Lehrbuch der Psychotraumatologie - Gottfried Fischer


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Erfahrungsberichten von Traumapatienten, ihrem Zwang, die traumatische Situation quasihalluzinatorisch durchleben zu müssen, ohne sie in Worte fassen zu können, dem Ausgeliefertsein an einen bildhaft erlebten wortlosen Panikzustand (speechless terror). Prä-Post-Vergleiche nach einer Trauma-Psychotherapie (EMDR), die van der Kolk und Mitarbeiter (1997) durchführten, zeigen nach gelingender Therapie eine erhöhte Aktivität des cingulären Cortex, nicht aber eine Verringerung in der Aktivität des Amygdalum. Der Befund lässt sich hypothetisch dahin deuten, dass die traumatischen Eindrücke emotional zwar unverändert wirksam sind, jetzt jedoch zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Erinnerung und aktueller Bedrohung unterschieden werden kann. Dabei scheint die selektive Aktivierung des cortex cingularis für die Differenzierung zwischen internaler und externaler Information ausschlaggebend zu sein. Eine sprachlich-symbolische Fassung der traumatischen Erfahrung ist bei diesem Vorgang besonders hilfreich.

Eigenschaften der rechten HemisphäreEigenschaften der linken Hemisphäre
•beteiligt an Ausdruck und Verständnis globaler nonverbaler und emotionaler Kommunikationsformen (Stimmgebung, Gesichtsausdruck, bildhafte Darstellung)•ganzheitliche Kodierung über verschiedene Sinnesmodalitäten hinweg•die entwicklungsbiologisch frühe Reifung der rechten Hemisphäre stimmt mit der Bedeutung emotionaler Kommunikationsformen beim Kleinkind überein•eine möglicherweise enge Beziehung zum Amygdalum, das die Auswertung unter dem Gesichtspunkt emotionaler Relevanz vornimmt: freundlich vs. feindlich, sicher vs. bedrohlich•lediglich rudimentäre Fähigkeiten zu Syntax, Rationalität und analytischem Denken•sequenzielle Verarbeitung von Informationen, operatives, problemlösendes Denken•erzeugt Worte und Symbole, die persönliche Erfahrungen in kulturell geteilte Bedeutungen übersetzen•Kategorisierung der Erfahrung durch Abstraktionsprozesse•Generativität, Erzeugen neuer Bedeutungen und Symbole

      Auch wenn einige der erwähnten Forschungsergebnisse aus „Simulationsstudien“ stammen, wie dem Symptom-Provokations-Experiment von Rauch und Mitarbeitern, so können wir doch mit der gebotenen Vorsicht Rückschlüsse auf die peritraumatische Erfahrung ziehen. Sie ist aller Wahrscheinlichkeit nach in dem Sinne „dissoziativ“, dass sensorische Komponenten erlebt und gespeichert werden ohne Bezug zu ihrer semantischen Referenz oder nur in vagem Bezug zu ihr. Die peritraumatische Erfahrung besteht oft lediglich in visuellen, olfaktorischen, auditiven oder kinästhetischen Eindrücken. In der Erinnerung können diese Wahrnehmungsfragmente oft nicht mit der traumatischen Szenerie in Verbindung gebracht werden und sind in diesem Sinne „dekontextualisiert“, von ihrem situativen Kontext abgelöst. Dennoch geben sie Aspekte der traumatischen Situation wieder, die sich nachträglich in den situativen Kontext detailgetreu einreihen lassen. In vielen Fällen beginnt die „Dekontextualisierung“ schon unmittelbar in der traumatischen Situation. Erlebnisphänomene wie Derealisierung und Depersonalisierung scheinen jene Ablösung von der Situation gewissermaßen vorwegzunehmen, die hernach für die Erinnerung vieler Traumapatienten charakteristisch ist. Diese Phänomene deuten physiologisch einmal darauf hin, dass die zentralnervösen „Filter“ oder, wie sie salopp genannt werden: „Flaschenhalsstrukturen“ (Markowitsch 1996) in ihrer Differenzierungsfunktion blockiert sind. Sie könnten ihrem psychobiologischen Sinn nach aber auch so verstanden werden, dass ein physiologisch verankerter Abwehr-mechanismus die extreme Bedrohung und mögliche Destabilisierung des psychophysischen Selbst in der kritischen Situation verhindert. Im Modell des Situationskreises lassen sich einige Phänomene der peritraumatischen → Dissoziation als „innere Fluchttendenz“ deuten: als antizipierte Auswirkung der Motorik in der Rezeptionssphäre.

      Das Konzept des „Informationstraumas“ führt unter physiologischen wie psychologischen Gesichtspunkten zu einem komplementären Ergebnis. Auf beiden Ebenen scheint die Integration der traumatischen Erfahrung in die vorhandenen Schemata des Selbst- und Weltverständnisses bzw. die funktionell-neuronalen Strukturen zu misslingen. Ungeklärt ist bislang allerdings die genaue Wechselwirkung zwischen diesen Phänomenen. So kann die physiologische Teilstrecke der Informationsverarbeitung als Voraussetzung für die psychologische gesehen werden. Wenn die zentralnervöse Blockade aufgehoben ist und der Kontakt zu den kategorisierenden Hirnstrukturen (wieder) zustande kommt, kann die psychologische Verarbeitung auf dieser Voraussetzung aufbauen. Andererseits stellen sich in der Psychotherapie und in natürlichen Verarbeitungsprozessen möglicherweise auch „Abwärtseffekte“ (vgl. Abbildung 2) ein in dem Sinne, dass die sprachliche Kategorisierung oder „Rekategorisierung“ der traumatischen Erfahrung physiologische Integrationsprozesse erleichtert.

      Ein Verfahren, das möglicherweise auf beiden Ebenen, der psychischen und der physiologischen parallele Integrationsprozesse fördert, ist das sog. „Eye Movement Desensitization and Reprocessing“ (EMDR) nach Shapiro (1995) Eine bildhafte und verbale Verarbeitung des Traumas soll durch rhythmische laterale Stimulation gefördert werden. Eine Hypothese zur Wirkungsweise besteht in der Annahme, dass laterale Stimulation, z. B. rhythmische seitliche Augenbewegungen, der traumabedingten Lateralisation entgegenwirkt und die Zusammenführung von links- und rechtshemisphärischer Information unterstützt.

      2.3 Fassen des Unfasslichen – die traumatische Reaktion

      Die → traumatische Reaktion kann man analog etwa zur „Immunreaktion“ als einen komplexen Abwehrvorgang verstehen, in dem der psychophysische Organismus versucht, einen eingedrungenen Fremdkörper bzw. eingedrungene Mikroorganismen entweder zu vernichten und auszuscheiden oder aber zu assimilieren. Eine dritte Möglichkeit besteht darin, mit dem „Trauma“ als nicht assimilierbarem innerem „Fremdkörper“ weiter zu leben – eine Situation, die für Phase 3 im Verlaufsmodell der psychischen Traumatisierung, den traumatischen Prozess charakteristisch ist. Diese somatischen Metaphern können den Überblick über das komplexe psychophysische Traumageschehen erleichtern.

      Einige Charakteristika der postexpositorischen → traumatischen Reaktion lassen sich aus den Überlegungen des vorigen Abschnitts ableiten. Die traumatische Erfahrung hat zu Ausnahmezuständen geführt, die von der Normalverfassung des Subjekts abgespalten oder dissoziiert sind. Diese können auch in der Einwirkungsphase fortbestehen. Solche Ausnahmezustände wurden in der Geschichte der Psychotraumatologie bisweilen als „hypnoid“ (schlafähnlich) oder tranceartig bezeichnet. In diesen werden Bruchstücke der traumatischen Erfahrung wiedererlebt. Piérre Janet sah dissoziierte Erlebniszustände oder Stimmungslagen als zentrale Traumafolge an (van der Kolk et al. 1989), während Freud sich später von der Zustandstheorie der Traumafolgen abwandte und sich der Ausarbeitung seiner Abwehrlehre widmete. Beide Zugangsweisen erscheinen aber nicht unvereinbar. Ein Pionier der Traumaforschung, dem es gelingt, die Abwehrlehre und Zustandstheorie miteinander zu verbinden, ist der nordamerikanische Psychoanalytiker Mardi Horowitz, dessen Konzept der traumatischen Reaktion im Folgenden dargestellt wird.

      Nach Horowitz durchläuft die post-expositorische Reaktion mehrere Phasen, die jeweils nach einer normalen und einer pathologischen Variante unterschieden werden können. Die normale Reaktion bezeichnet Horowitz als „stress response“, die pathologische Variante stellt die traumatische Reaktion im engeren Sinne dar:

      1.Die peri-traumatische Expositionsphase. Die normale Antwort sind Aufschrei, Angst, Trauer und Wutreaktionen. Der pathologische → Erlebniszustand ist gekennzeichnet durch Überflutung von den überwältigenden Eindrücken. Die betroffene Persönlichkeit wird von der unmittelbaren emotionalen Reaktion überschwemmt und befindet sich manchmal noch lange Zeit über in einem Zustand von Panik bzw. Erschöpfung, der aus den eskalierenden emotionalen Reaktionen entsteht.

      2.Verleugnungsphase (bzw. -zustand). Die Betroffenen wehren sich gegen Erinnerungen an die traumatische Situation. Pathologische Variante: Extremes Vermeidungsverhalten, evtl. unterstützt durch Gebrauch von Drogen


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