Lehrbuch der Psychotraumatologie. Gottfried Fischer

Lehrbuch der Psychotraumatologie - Gottfried Fischer


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oder Erinnerungsbildern. Pathologische Variante: Erlebniszustände mit ständig sich aufdrängenden Gedanken und Erinnerungsbildern vom Trauma (intrusive Phänomene des PTBS).

      4.Phase bzw. Erlebniszustand: Durcharbeiten. Hier setzen sich die Betroffenen mit den traumatischen Ereignissen und ihrer persönlichen Reaktion auseinander.

      5.Relativer Abschluss (completion). Ein Kriterium ist die Fähigkeit, die traumatische Situation in ihren wichtigsten Bestandteilen erinnern zu können, ohne zwanghaft daran denken zu müssen.

      Die pathologischen Varianten zu den Phasen 4 und 5 sind „frozen states“: erstarrte Zustände mit psychosomatischen Symptomen, wie körperlichen Missempfindungen verschiedener Art und Verlust der Hoffnung, die traumatische Erfahrung durcharbeiten und abschließen zu können; ferner Charakterveränderungen als Versuch, mit der subjektiv nicht zu bewältigenden traumatischen Erfahrung zu leben. Ausgedehnte Vermeidungshaltungen gehen mit der Zeit in phobische Charakterzüge über. Als ein allgemeines Merkmal traumabedingter Charakterveränderung kann die Störung von Arbeits- und Liebesfähigkeit angesehen werden.

      Die bahnbrechende Arbeit von Horowitz zur Stress- und Traumatheorie „Stress response syndroms“ erschien zum ersten Mal im Jahre 1976. Sie kann als eine Pionierarbeit gelten, die dazu beigetragen hat, dass psychotraumatologische Syndrome wie die PTSD in das diagnostische Manual der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft Eingang fanden. Die Psychotraumatologie verdankt Horowitz zudem die Entdeckung des biphasischen Charakters der traumatischen Reaktion als eines zentralen psychobiologischen Verarbeitungsmechanismus.

      Es handelt sich um den regelhaft wiederkehrenden Wechsel von Intrusion (Eindringen) und Verleugnung der traumatischen Erinnerungsbilder. Dieser zweiphasische Charakter der traumatischen Reaktion steht nach Horowitz im Dienste einer Tendenz zur Erledigung unvollendeter Handlungen (completion tendency, → Vollendungstendenz), die in der Psychologie auch experimentell untersucht wurde. Ein Beispiel sind die Experimente zum so genannten „Zeigarnik-Effekt“. Zeigarnik konnte zeigen, dass künstlich unterbrochene Handlungen bevorzugt wieder aufgenommen werden, sobald die Versuchspersonen Gelegenheit dazu finden. Begriffe, die mit diesen unerledigten Handlungen assoziiert waren, wurden in einem Gedächtnistest weit häufiger erinnert als solche aus anderen Assoziationsfeldern.

      Die „completion tendency“ als Tendenz zur Wiederaufnahme und Vollendung unterbrochener Handlungen hat in der Wahrnehmungspsychologie eine Entsprechung in der Tendenz zur „guten Gestalt“. Auch der von Freud beschriebene „Wiederholungszwang“ folgt in seinem positiven, zukunftsgerichteten Aspekt der → Vollendungstendenz und lässt sich als Versuch verstehen, unbewältigte lebensgeschichtliche Erfahrungen zu einem Abschluss, einer relativen Vollendung zu bringen. Nach Piaget folgen die sensomotorischen Schemata einer Tendenz zur Selbstbetätigung durch Wiederholung, die er als Tendenz zur „reproduzierenden Assimilation“ bezeichnet. Vom Situationskreismodell her ist anzunehmen, dass immer neue Zyklen der hypothetischen Bedeutungsunterstellung und Bedeutungserprobung durchlaufen werden, um den unassimilierbaren Fremdkörper, den die traumatische Erfahrung bildet, in den semantischen Deutungsbestand oder das schematische Wissen der Persönlichkeit integrieren zu können.

      Da die traumatische Erfahrung auf einem vital bedeutsamen Diskrepanzerlebnis beruht, kann sie vom psychischen System nicht auf Dauer ignoriert und gewissermaßen beiseite geschoben werden. Die Verleugnungsversuche des „denial state of mind“ sind langfristig zum Scheitern verurteilt.

      Horowitz nimmt an, dass vital bedeutsame unerledigte Handlungen vom Typus des Traumas in einer Art Arbeitsgedächtnis (working memory) gespeichert werden, das gegenüber den alltäglichen Agenda und deren kognitiver Verarbeitung eine „Vorzugsschaltung“ genießt. Sobald die äußeren Verhältnisse und die kognitive Kapazität dies gestatten, dringen die Agenda des „working memory“ in die Bewusstseinssphäre, gleichsam in den „Arbeitsspeicher“ des psychischen Systems vor. Dabei handelt es sich um einen dynamischen, konflikthaften Vorgang mit instabilem Gleichgewicht. Personen beispielsweise, deren Traumaverarbeitungsprozess im Erlebniszustand der Verleugnung und Vermeidung fixiert ist, müssen mit der Zeit zu immer stärkeren Mitteln greifen, um den Eintritt der traumatischen Agenda in die Bewusstseinssphäre zu verhindern. Der Traumaverarbeitungsprozess ist hier pathologisch entgleist. Im günstigen Falle aber können im biphasischen Wechsel von Verleugnung und Intrusion die Agenda des „working memory“ schrittweise aufgearbeitet werden. Die (kognitiv-emotionalen) Schemata des bisherigen Selbst- und Weltverständnisses müssen dabei in einem oft langwierigen Prozess so lange modifiziert werden, bis die traumatische Erfahrung in den überdauernden schematischen Wissensbestand der Persönlichkeit integriert ist und der Verarbeitungszyklus zu einem relativen Abschluss kommt.

      Abbildung 5 gibt eine Übersicht über den Zyklus der Traumaverarbeitung im post-expositorischen Zeitraum. Die Quadranten I bis IV entsprechen den Phasen der traumatischen Reaktion bzw. den zeitlich überdauernden Erlebniszuständen, die bei einer Fixierung dieser Phasen zu erwarten sind. Wir beginnen von links mit Quadrant I. Dieser entspricht der peritraumatischen Erlebnissituation mit Aufschrei bzw. Reizüberflutung. Hier setzt ein erster Abwehrversuch ein mit dem Ziel, die überschießenden Affekte zu kontrollieren oder zu modulieren. Dieser leitet über zur Vermeidungs- bzw. Verleugnungsphase (Quadrant II). Wird diese Phase fixiert, so kommt es zu Gefühlsabstumpfung (→ numbing) oder einer allgemeinen Erstarrung der Persönlichkeit, bedingt durch übermäßige Abwehr im Sinne einer pathologischen Übermodulation der vorausgehenden oder drohenden Reizüberflutung.

      Bei Lockerung der Abwehr oder einer dispositionellen Abwehrschwäche kommt es zum Übergang in die Intrusionsphase bzw. den Intrusionszustand mit sich aufdrängenden Vorstellungsbildern, Gedanken und Körperempfindungen, die assoziativ mit der traumatischen Situation vernetzt sind (Quadrant III). Ein funktionsfähiges Kontrollsystem aus → Coping- bzw. → Abwehrmechanismen kann verhindern, dass sich die Intrusionsphase in einen Zustand dauerhafter pathologischer Reizüberflutung verwandelt. Die Rückkopplungsschleife deutet in der Graphik den für die Traumareaktion und das PTBS charakteristischen biphasischen Wechsel von Verleugnung und Intrusion an. Das Durcharbeiten traumatischer Agenda wird möglich, wenn die Fähigkeit zur Selbstberuhigung so weit gestärkt ist, dass ein kontrolliertes Wiedererleben der traumatischen Situation möglich wird. Jetzt kann der in den kognitiv-emotionalen Schemata der Persönlichkeit organisierte Wissensbestand so weit umgearbeitet werden, dass die traumatische Erfahrung integriert wird. Die erschütterten Annahmen des Selbst- und Weltverständnisses werden in mühsamen Schritten qualitativ neu wieder aufgebaut.

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      Gegenüber dem Modell der traumatischen Reaktion nach Horowitz wurde kritisch eingewandt, dass nach der peritraumatischen Erfahrung, dem „Aufschrei“, nicht immer eine Phase der Verleugnung, sondern bisweilen intrusive Reizüberflutung zu beobachten sei (so etwa Brewin et al. 1996). Unseres Erachtens liegt hier ein Missverständnis vor. Die Phasenfolge entspricht einer erwartbaren Sequenz, die sich aus dem Streben des Organismus ergibt, anhaltende Panikzustände zu vermeiden und sie mit den verfügbaren Abwehrkräften zu beenden. Dass dieses Bestreben im Einzelfall scheitern kann aus Gründen, die in der Persönlichkeit liegen (z. B. Abwehrschwäche) oder in spezifischen Situationsfaktoren (etwa untergründiges Fortbestehen der traumatischen Situation), stellt keinen prinzipiellen Einwand gegen die Phasenfolge dar. Das Modell ist im Gegenteil klinisch insofern nützlich, als es dazu anhält, bei Abweichungen vom erwartbaren Verlauf nach Gründen zu forschen, die dafür verantwortlich sind.

      Das basale PTBS, wie es in DSM und ICD formuliert ist, erweist sich von der Dynamik der Traumareaktion her als Spezialfall des Verlaufsprozesses. Hier werden die Quadranten II und III gleichzeitig fixiert und weisen beide gleichzeitig pathologische Über- bzw. Untermodulationen auf. Symptombilder, die manifest nur durch eine der beiden Phasen bestimmt sind, fallen aus dem diagnostischen Algorithmus des PTSD bislang heraus, obwohl sie zweifellos zum Traumaspektrum gehören. Daher sollte sich auch die psychotraumatologische → Diagnostik an der dynamischen Gestalt der Traumareaktion sowie der übergreifenden Verlaufsgestalt von Situation, Reaktion und Prozess traumatischer


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