Lehrbuch der Psychotraumatologie. Gottfried Fischer

Lehrbuch der Psychotraumatologie - Gottfried Fischer


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Aktivationsbedingungen statt. Mit verschiedenen Formen von Coping beschäftigt sich inzwischen eine entwickelte Forschungsrichtung, die u. a. gezeigt hat, dass jedes Individuum über einen begrenzten Satz von Strategien und Schemata verfügt, mit Stresssituationen erfolgreich umgehen zu können (vgl. Abschnitt 2.1 und 2.2.2 zur Phänomenologie und Psychobiologie der traumatischen Situation).

      Biologisch bedeutsame Stresssituationen versetzen den Organismus in der Regel in einen Aktivationszustand, in dem Kampf- und Fluchttendenzen einander abwechseln oder auch simultan einander widerstreiten (fight-flight reaction. nach Cannon in von Uexküll 1988). Kampf-/Fluchttendenzen und Coping Verhalten zielen darauf ab, die äußere Problemsituation zu bewältigen. Man kann diese Mechanismen, die im Situationskreis sowohl die rezeptorische wie die effektorische Sphäre maximal aktivieren und belasten können, als Anpassungsmechanismen bezeichnen. Mit ihnen passt sich der Organismus so weit den problematischen Umweltverhältnissen an, wie es die Situation erfordert. Dauert die bedrohliche Situation länger an, so arbeitet das psychophysische System in einem permanenten Alarmzustand, was seine Kapazität auf Dauer überfordert und erschöpft. So kann es bei dauerhaftem Dis-Stress zu einem psychophysischen Erschöpfungszustand kommen, den Cannon als das „General Adaptation Syndrome“ beschrieben hat mit zahlreichen psychophysischen Störungen wie Verlust der Immunkompetenz, Störung der Wundheilung, Erschöpfung der Energievorräte und Auftreten von organischen Beeinträchtigungen, wie z. B. Magengeschwüren.

      Durch dauerhafte Coping- und Anpassungsbemühungen gerät der Organismus in einen Zustand, der wiederum seine Existenz gefährdet und das Ziel der Anpassungsbemühungen hintertreibt. Daher setzt das psychophysische System seiner Veränderung durch Anpassungsbemühungen normalerweise systemerhaltende → Abwehrmechanismen entgegen. Hier werden bestimmte störende Bedingungen der Umwelt oder auch der „Innenwelt“: der enteroceptiven und proprioceptiven Körperempfindungen aus der rezeptorischen Sphäre ausgeblendet. Der biologische Sinn von Abwehrvorgängen besteht darin, der Informationsüberflutung des Systems und übersteigertem Anpassungsdruck entgegenzusteuern. Führt aber weder Coping noch Abwehr zu einer Kontrolle der biologisch und/oder psychosozial bedrohlichen Problemsituation, so gerät das psychophysische Individuum aus dem Bereich der Stressbelastung in eine potenziell traumatische Erfahrungssituation hinein. Die regulativen Schemata versagen. In einer extrem bedeutsamen Situation kommt es so zu einer systematischen Diskrepanz zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und individuellen Bewältigungsmöglichkeiten.

      Definition der traumatischen Erfahrung. Von diesen Überlegungen aus können wir psychisches Trauma jetzt näher definieren, und zwar als ein

      vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt.

      In der traumatischen Situation sind einige Regeln der normalen Erlebnisverarbeitung gewöhnlich außer Kraft gesetzt. Es kommt zu Veränderungen der rezeptorischen Sphäre (Veränderungen des Zeit-, Raum- und Selbsterlebens). Mit Bezug auf die effektorische Sphäre können wir Trauma als unterbrochene Handlung in einer vital bedeutsamen Problemsituation definieren. Aktuell tritt entweder eine (katatonoide) Lähmung und Erstarrung ein oder es kommt zu einem panikartigen Bewegungssturm. Langfristig setzt sich die aus der experimentellen Psychologie bekannte Tendenz zur Wiederaufnahme unterbrochener Handlungen durch. Dieses als „Zeigarnik-Effekt“ bekannte Phänomen tritt bei einer vital bedeutsamen unterbrochenen Handlung natürlich verstärkt in Erscheinung und kann zur Erklärung der verschiedenen Wiederholungstendenzen (Wiederholungszwang, → Traumatophilie, Traumasucht) herangezogen werden. Werden Traumabetroffene postexpositorisch über ihr Erleben befragt, so schildern sie vor allem Symptome des völligen Absorbiert- und Gefangenseins in der Situation, von Depersonalisierung (z. B. neben sich stehen) und Derealisierung (es ist nicht Wirklichkeit, Phantasie, nur ein Traum) sowie amnestische Erfahrungen des Vergessens entscheidender Vorkommnisse. Die Schemata unserer Wahrnehmungsverarbeitung werden durch traumatische Erlebnisse anscheinend strukturell verändert bzw. außer Kraft gesetzt. Bernstein und Putnam (1986) haben einen Fragebogen entwickelt, das „Peritraumatic Dissociative Experience Questionnaire“ (PDEQ), der wichtige dissoziative Erfahrungen erfasst. Der Fragebogen wurde u. a. Soldaten nach Kampfeinsätzen vorgelegt. Hohe Werte im PDEQ erwiesen sich in Untersuchungen als ein relativ zuverlässiger prognostischer Indikator für die spätere Ausbildung eines PTBS. Auch im Kölner Opferhilfe Modell zeigte sich diese Tendenz (Fischer et al. 1998). Um einen Eindruck zu vermitteln, führen wir im Folgenden einige Statements aus dem Fragebogen in Kurzform an.

      „Ich wußte nicht mehr, was vor sich ging und war an den Ereignissen nicht mehr beteiligt; ich handelte automatisch und bemerkte erst später, daß ich Dinge tat, zu denen ich mich gar nicht bewußt entschlossen hatte; alles schien wie im Zeitlupentempo zu passieren; es schien mir unwirklich, als ob ich träume, oder einen Film bzw. ein Theaterstück sehe; ich fühlte mich wie ein Zuschauer, als ob ich das Geschehen wie ein Außenstehender betrachten und darüber schweben würde; ich fühlte mich abgetrennt von meinem Körper oder so, als ob mein Körper außergewöhnlich groß oder klein wäre; ich fühlte mich von Dingen, die anderen geschahen, unmittelbar selbst betroffen; später fand ich heraus, daß vieles passiert war, was ich nicht mitbekommen hatte, vor allem Dinge, die ich normalerweise bemerken würde; es gab Augenblicke, in denen mir nicht klar war, was um mich herum vor sich ging, ich war verwirrt; ich war desorientiert; es gab Momente, in denen ich mir unsicher war, wo ich war und welche Zeit es gerade war“.

      Eine oft berichtete peritraumatische Erlebnisveränderung ist die so genannte „Tunnelsicht“. Das Blickfeld ist seitlich extrem eingeengt, so dass das Geschehen sich wie in einem Tunnel abspielt. Vom Situationskreismodell her könnte man eine spezifische Beeinflussung der rezeptorischen durch die motorische Sphäre vermuten. Der Betroffene kann zwar nicht fliehen, nimmt aber die Umgebung wie aus wachsender Entfernung wahr. Die Fluchtbewegung in der Wahrnehmung manifestiert sich auch in einigen anderen Phänomenen, wie über den Dingen schweben, aus dem eigenen Körper heraustreten, ein außenstehender Beobachter sein oder träumen, statt die Wirklichkeit zu erleben. Bedenkt man die gegenseitige Durchdringung von effektorischer und rezeptorischer Sphäre, von Motorik und Sensorik, die das Kreismodell impliziert, so kann der psychobiologische Sinn des peritraumatischen Erlebens darin gesehen werden, wenigstens eine Wahrnehmungsdistanzierung zu erreichen, wo die reale Flucht nicht möglich ist und/oder aktives Kampfverhalten sich als wirkungslos erweist. Die amnestischen Phänomene kann man zum Teil als Abwehr verstehen, die der Selbsterhaltung des psychobiologischen Systems dienen soll.

      Depersonalisationserlebnisse, die wir auch als „Selbstverdopplung“ des Subjekts betrachten können, stellen ebenfalls einen solchen → Selbstschutzmechanismus dar. Das personale Erlebniszentrum trennt sich vom empirischen Selbst und schaut der bedrohlichen Szene von außen, oft schwebenderweise von oben zu. Folteropfer z. B., die über solche dissoziativen Fähigkeiten verfügen, sind gegenüber der unerträglichen traumatischen Situation möglicherweise besser geschützt als andere, denen diese Fähigkeit nicht zur Verfügung steht.

      Bislang ist nicht eindeutig geklärt, ob dissoziative Fähigkeiten angeboren sind oder frühkindlich erworben werden. Die erwähnte positive Korrelation zwischen hohen Werten im PDEQ und späterem PTBS muss nicht dahin interpretiert werden, dass Personen mit hohen dissoziativen Fähigkeiten einem stärkeren PTBS-Risiko ausgesetzt sind. Es kann auch ein gemeinsamer Situationsfaktor zugrunde liegen, der sowohl peritraumatische → Dissoziation fördert wie auch das Folgesyndrom. Für die Verwandlung von Erinnerungen an die traumatische Situation in schematisiertes Wissen allerdings stellen dissoziative Tendenzen vermutlich ein besonderes Problem dar. Hier kann es leicht zur Bildung dissoziierter, fragmentierter Schemata kommen, die ein abgespaltenes Dasein im Gedächtnis führen und sich den Koordinationsregeln entziehen, die sonst den verfügbaren Wissensbestand der Persönlichkeit leiten.

      Abbildung 4 zeigt das peritraumatische Erleben im Modell des Situationskreises. Bei den traumatisch bedingten Veränderungen der effektorischen Sphäre sind Leerlaufhandeln und Pseudohandeln zu


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