Lehrbuch der Psychotraumatologie. Gottfried Fischer
der sonst gültigen Normen außer Kraft gesetzt sind, einer späteren psychotraumatischen Belastungsstörung vorausgegangen war. Paradox genug macht sich die traumatische Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis, die wir unserer Traumadefinition zugrunde legen, selbst unter den weitgehend anomischen Bedingungen des Krieges als besonderer traumatogener Faktor bemerkbar.
1.3.2 Wissenschaftsgeschichte der Psychotraumatologie
Unter den wissenschaftlichen Pionierleistungen, die in der Psychotraumatologie zusammenfließen, sind u. a. der sehr eigenständige Ansatz von Janet zu nennen, die Psychoanalyse und die auf den schwedischen Internisten Selye zurückgehende Stress- und → Copingforschung. Pierre Janet (1859-1947) und Sigmund Freud (1856-1939), Begründer der Psychoanalyse, waren Zeitgenossen. Während Freud und sein Werk vor allem auch für den therapeutischen Umgang mit Traumatisierung historisch sehr bedeutsam wurde, blieben Janets Arbeiten lange Zeit ohne großen Einfluss, wurden dann aber in ihrer Pionierrolle für die Psychotraumatologie gewürdigt. Van der Kolk et al. (1989), die sich mit Janet als einem Vorläufer der modernen Psychotraumatologie befassen, bemerken dazu:
„Es ist eine Ironie, daß in den ausgehenden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die Psychiatrie erst langsam eine Wissensbasis wiederentdeckt über die Auswirkung von Traumatisierung auf psychologische Prozesse, die zentral war in den europäischen Konzeptionen der Psychopathologie während der letzten Jahrzehnte des vergangenen Jahrhunderts“ (Übers. die Verf., 365).
Demnach hat es beinahe 100 Jahre gedauert, bis die Arbeiten Janets wieder die Bedeutung erlangten, die sie für Psychologie, Psychopathologie und Psychiatrie um die Jahrhundertwende hatten. Janet hatte seinerzeit ebenso wie zeitweilig auch Freud, mit dem berühmten Hypnosearzt Charcot an der Pariser Salpetriere zusammengearbeitet. Aus den Hypnoseexperimenten und den therapeutischen Ansätzen Charcots ging hervor, dass zahlreiche psychopathologische Auffälligkeiten und Symptombildungen, unter denen die psychiatrischen Patienten litten, mit verdrängten Erinnerungen an traumatische Erlebnisse zusammenhingen. Janet zog als erster den Begriff der → Dissoziation als Erklärungskonzept heran. Dissoziationen ergeben sich nach Janet als Folge einer Überforderung des Bewusstseins bei der Verarbeitung traumatischer, überwältigender Erlebnissituationen. In seiner Arbeit „L̓automatisme psychologique“ (1889) führt er aus, dass die Erinnerung an eine traumatische Erfahrung oft nicht angemessen verarbeitet werden kann: sie wird daher vom Bewusstsein abgespalten, dissoziiert, um zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufzuleben, entweder als emotionaler Erlebniszustand, als körperliches Zustandsbild, in Form von Vorstellungen und Bildern oder von Reinszenierungen im Verhalten. Die nicht integrierbaren Erlebniszustände können im Extremfall zur Ausbildung unterschiedlicher Teilpersönlichkeiten führen, was der dissoziativen Identitätsstörung entspricht. Janet hat als erster Gedächtnisstörungen beschrieben, die mit Traumatisierung einhergehen. Er erklärte postexpositorische Amnesien oder Hypermnesien (übergenaue Erinnerungsbilder) als eine Art Übersetzungsfehler, als Unfähigkeit, die traumatische Erfahrung in eine weniger furchterregende Erzählung übertragen zu können (Janet 1904).
Die Unterscheidung verschiedener Repräsentationsformen des Gedächtnisses, wie sie auch in der modernen kognitiven Forschung üblich ist, in enaktiv (verhaltensgesteuert), ikonisch (bildhaft) und symbolisch-linguistisch (Kihlstrom 1984) hat Janets Student Jean Piaget aufgegriffen und auf die Entwicklungsstadien von sensomotorisch-präoperationalen und symbolgesteuert-operationalen Denkvorgängen übertragen. Janets Arbeiten sind vielfach im Werk von Piaget wirksam geworden. Den traumazentrierten Ansatz Janets hat Piaget allerdings nicht weiterverfolgt. Bedeutsam auch heute noch für die Psychotraumatologie ist Janets Entdeckung, dass traumatische Erfahrungen, die nicht mit Worten beschrieben werden können, sich in Bildern, körperlichen Reaktionen und im Verhalten manifestieren. Der „unaussprechliche Schrecken“, den das Trauma hinterlässt, entzieht sich den höheren kognitiven Organisationsebenen, hinterlässt aber seine Spuren auf elementaren, → semiotisch niedrigeren Repräsentationsstufen. Wir bezeichnen diese psychische Struktur mit Erinnerungsfragmenten auf unterschiedlichen Repräsentationsebenen und der charakteristischen Spaltung von Wahrnehmungs- und Handlungsteil als → Traumaschema.
Festzuhalten als Verdienst dieses Forschers bleibt eine recht differenzierte Theorie über Traumatisierung und Gedächtnisstörungen, Reinszenierung des Traumas im Verhalten und auf unterschiedlichen kognitiven Repräsentationsebenen. Besonders bedeutsam ist Janets Konzept einer Dissoziation unterschiedlicher Bewusstseinszustände, die in extremen Fällen zu sich verselbständigenden Teilpersönlichkeiten führen kann. In der psychoanalytischen Theorietradition wurde das Konzept sich verselbständigender Erlebniszustände nur von wenigen Forschern aufgegriffen so etwa von Paul Federn (1952) mit seiner Theorie der „Ich-Zustände“ oder von Mardi Horowitz (1979) in seinem Konzept der „states of mind“, von persönlichkeitstypischen Erlebniszuständen oder Stimmungslagen (vgl. hierzu auch Fischer 1989). Ansonsten hat die Entwicklung der Traumatheorie bei Freud einen etwas anderen Verlauf genommen und andere Akzente gesetzt.
Die Frage, wie weit zwischen Janet und Freud grundsätzlich vereinbare oder einander ausschließende Traumakonzeptionen vorliegen, ist nicht leicht zu entscheiden. Fest steht jedenfalls, dass Freud unterschiedliche Akzente setzte. Auch in Freuds frühen Werken findet sich der Begriff Dissoziation. Freud führte aber bald das Konzept der Abwehr ein, als deren Prototyp die Verdrängung gelten kann. Dabei handelt es sich um ein motiviertes, absichtsvolles Vergessen. Traumatische Erfahrungen werden also demzufolge nicht nur deshalb dissoziiert, weil das Bewusstsein momentan mit ihrer Verarbeitung überfordert wäre. Vielmehr werden sie vom Bewusstsein aktiv ferngehalten, weil ihre Integration die Persönlichkeit mit unangenehmen oder gar unerträglichen Affekten überlasten würde.
In seiner Beschäftigung mit dem psychischen Trauma hat Freud sehr unterschiedliche Epochen durchlaufen. In einer frühen Phase, wie sie sich z. B. in den Studien zur Hysterie (1875) widerspiegelt, war er davon überzeugt, dass eine reale traumatische Erfahrung, insbesondere sexuelle Verführung von Kindern, jeder späteren hysterischen Störung zugrundeliege. In einer späteren Forschungsperiode (etwa ab 1905) relativierte er diese Auffassung. Mit der Erforschung des kindlichen Sexuallebens arbeitete Freud die Rolle kindlicher Triebwünsche und Phantasiebildungen bei der Entstehung neurotischer Störungen heraus. An einer realen Verführung als möglicher Ursache späterer Störungen hielt Freud allerdings weiterhin fest: „...ich kann nicht zugestehen, dass ich in meiner Abhandlung 1896 „Über die Ätiologie der Hysterie“ die Häufigkeit oder die Bedeutung derselben überschätzt habe, wenngleich ich damals noch nicht wusste, dass normal gebliebene Individuen in ihren Kinderjahren die nämlichen Erlebnisse gehabt haben können, und darum die Verführung höher wertete als die in der sexuellen Konstitution und Entwicklung gegebenen Faktoren“ (Freud 1905d, 91).
Aus heutiger Sicht stellt sich die Frage, wie weit Freud in seiner frühen Forschung zur Entstehungsgeschichte der Hysterie einer einseitigen Stichprobenauswahl zum Opfer gefallen war. Unter seinen Patientinnen, die in den Studien zur Hysterie erwähnt sind, befand sich möglicherweise eine überhöhte Quote mit realen sexuellen Missbrauchserfahrungen in der Kindheit. Freuds Schlussfolgerung, dass hysterischen Störungen in jedem Falle sexuelle Verführung zugrunde liegen müsse, war forschungslogisch und empirisch tatsächlich nicht haltbar. Heute wissen wir, dass sexueller Missbrauch in der Kindheit zwar auch zu einer hysterischen Störung führen kann, ebenso gut aber auch zu anderen Bildern wie dem Borderline-Syndrom oder dissoziativen Störungen (vgl. Kap. 9.4.6) Auch in der „follow-back“-Perspektive hat eine neurotische Störung, eine hysterische Neurose keineswegs immer psychotraumatische Ursachen. Unterschiedliche biologische und sozialisatorische Einflüsse können eine neurotische Entwicklung einleiten, darunter etwa auch die Verwöhnung von Kindern durch überfürsorgliche Erwachsene. Zudem können sehr unterschiedliche kindliche Traumen später zu einem ähnlichen Störungsbild führen. Ein Deprivationstrauma kann ein depressives, narzisstisches, aber auch hysterisches Störungsbild nach sich ziehen, abhängig wohl vor allem von unterschiedlichen Konstellationen der traumatischen Situation. Nach Kriterien der psychotraumatologischen Forschungslogik hatte Freud gute Gründe, seine erste, pauschal verallgemeinernde Theorie von der Ätiologie der Hysterie zu revidieren.
Daraus ist gegen Freud wiederholt der Vorwurf abgeleitet worden, er habe die Verführungstheorie aufgegeben, um der sozialen Ächtung zu entgehen, die mit seiner frühen Entdeckung verbunden