Lehrbuch der Psychotraumatologie. Gottfried Fischer
erst nach Jahren in Erscheinung treten. Auch diese Beobachtung spricht u. E. dafür, psychische Traumatisierung als einen Verlaufsprozess zu verstehen. Hier kann das Erlebnismoment der Nachträglichkeit beteiligt sein, wenn dem früheren Erlebnis erst im Nachhinein eine existenziell bedrohliche Bedeutung verliehen wird. Bedingt durch eine Wiederholung von Komponenten der traumatischen Situation, durch Lebenskrisen oder „Passagen“ im Lebenszyklus (wie Adoleszenz, Elternschaft, Altern) kann ein bis dahin latentes → Traumaschema stimuliert werden und zur Symptomproduktion beitragen.
Victimisierungssyndrom. Frank Ochberg, ein Traumaforscher aus Michigan, der sich vor allem mit Therapie für Opfer von Gewaltverbrechen befasst, hat für die traumatische Auswirkung von Gewalterfahrungen eine Symptomliste vorgeschlagen (1988), die er später zu einem Syndrom zusammenfasste mit einem eigenen Kalkül für die Diagnose analog zum bPTBS (1993). Das Syndrom besteht aus drei Kriterien (A, B, C) und 10 Symptomen (siehe Tabelle 3).
Tabelle 3: Victimisierungssyndrom nach Ochberg (1993, 782, Übers. G. F. und P. R.)
A. Die Erfahrung einer oder mehrerer Episoden von physischer Gewalt oder psychischem Missbrauch oder Nötigung zu sexueller Aktivität, dies entweder als Opfer oder als Zeuge.
B. Die Entwicklung von mindestens x (Anzahl muss noch festgelegt werden) der folgenden Symptome (nicht vorhanden vor der Victimisierungserfahrung):
1)Ein Gefühl, den täglichen Aufgaben und Verpflichtungen nicht mehr gewachsen zu sein, welches über das Erlebnis von Ohnmacht in der speziellen traumatischen Situation hinausgeht (z. B. allgemeine Passivität, mangelnde Selbstbehauptung, oder fehlendes Vertrauen in die eigene Urteilsfähigkeit).
2)Die Überzeugung, dass man durch die Victimisierungserfahrung dauerhaft beschädigt ist (z. B. wenn ein missbrauchtes Kind oder ein Opfer von Vergewaltigung der Überzeugung ist, dass es für andere nie mehr attraktiv sein kann).
3)Gefühle von Isolation, Unfähigkeit, anderen zu vertrauen oder mit ihnen Intimität herzustellen.
4)Übermäßige Unterdrückung oder exzessiver Ausdruck von Ärger.
5)Unangemessene Bagatellisierung von zugefügten (psychischen oder physischen) Verletzungen.
6)Amnesie des traumatischen Erlebnisses.
7)Die Überzeugung des Opfers, an dem Vorfall eher die Schuld zu tragen als der Täter.
8)Eine Neigung, sich der traumatischen Erfahrung erneut auszusetzen.
9)Übernahme des verzerrten Weltbildes des Täters in der Einschätzung von sozial angemessenem Verhalten (z. B. die Annahme, dass es in Ordnung ist, wenn Eltern sexuelle Beziehungen zu ihren Kindern unterhalten oder dass es in Ordnung ist, wenn ein Ehemann seine Frau schlägt, damit sie gehorcht).
10)Idealisierung des Täters.
C. Dauer des Syndroms von mindestens einem Monat.
Ochberg bringt mit diesem Vorschlag u. E. einige der symptomatischen Besonderheiten zum Ausdruck, die durch eine traumatische Erschütterung des → kommunikativen Realitätsprinzips entstehen. Insofern erscheint es uns angebracht, das Victimisierungssyndrom (VS) zu den Syndromen der allgemeinen Psychotraumatologie zu rechnen mit spezieller Relevanz für soziale Gewalterfahrungen. Es überschneidet sich in einigen Punkten mit dem basalen psychotraumatischen Belastungssyndrom, benennt aber zusätzlich Aspekte einer Erschütterung und Verzerrung von Prämissen unserer sozialen Welterfahrung, die im bPTBS noch nicht erfasst sind. Für die → Diagnostik der Folgen von Gewalterfahrung sollte das Victimisierungssyndrom (VS) ergänzend zum bPTBS berücksichtigt werden.
Komplexes psychotraumatisches Belastungssyndrom. In mancher Hinsicht eine Verbindung zwischen bPTBS und VS stellt das → komplexe psychotraumatische Belastungssyndrom nach Judith Herman und Bessel van der Kolk dar („complex PTSD“, im Folgenden abgekürzt als kPTBS). Die Folgen vor allem von schwerster, langanhaltender und wiederholter Traumatisierung wie etwa nach Folter, Lagerhaft und fortgesetzter Misshandlung sucht das kPTBS zu beschreiben. DESNOS ( = Diagnosis of Extreme Stress Not Otherwise Specified) hat als Arbeitsgruppe wesentliche Kriterien erarbeitet, die als Grundlage der erweiterten Trauma-Kriterien im DSM-5 angenommen werden können, auch wenn es hier nach wie vor keine eigene Definition für das komplexe PTBS gibt. Auch die Arbeitsgruppe um das Manual der Weltgesundheitsorganisation, die ICD, bereitet derzeit eine diagnostische Kategorie zum „Persönlichkeitswandel nach katastrophischen Erfahrungen“ vor. Der Vorschlag von Herman u. van der Kolk umfasst 7 Kriterien bzw. Symptomgruppen (Tabelle 4). Diese ausführlicheren Formulierungen finden sich in der aktuell (Stand: Mai 2018) in der Finalisierung begriffenen ICD-11 wieder (Tabelle 5).
Tabelle 4: Komplexes psychotraumatisches Belastungssyndrom (Herman 1992, 121, Übers. G. F. u. P.R.)
1.Unterworfensein unter totalitäre Kontrolle über einen längeren Zeitraum (Monate bis Jahre) mit Beispielen wie Geiselhaft, Kriegsgefangenschaft, Überleben von Konzentrationslagern und einiger religiöser Kulte. Weitere Beispiele sind die Opfer totalitärer Systeme im sexuellen und familiären Bereich, wie Überlebende von familiärer Gewalt, Kindesmisshandlung, sexuellem Kindesmissbrauch und organisierter sexueller Ausbeutung.
2.Veränderungen der Affektregulierung mit anhaltenden dysphorischen Verstimmungen, chronischer Beschäftigung mit Suizidideen, Neigung zu Selbstverletzungen, explosiver oder extrem unterdrückter Wut (ev. im Wechsel), zwanghafter oder extrem gehemmter Sexualität (ev. im Wechsel).
3.Veränderungen des Bewusstseins, wie Amnesie oder Hypermnesie für traumatische Ereignisse, dissoziative Episoden, Depersonalisation/Derealisation, Wiedererleben der traumatischen Erfahrungen entweder in Form intrusiver Symptome oder in Form von ständigem Grübeln.
4.Veränderungen des Selbstbildes mit Gefühlen von Hilflosigkeit und Initiativverlust; Scham, Schuldgefühlen und Selbstanklage; eigener Wertlosigkeit oder Stigmatisierung; Gefühl, völlig verschieden von anderen zu sein (etwas Besonderes beispielsweise, Erleben äußerster Einsamkeit, die Überzeugung, von niemandem verstanden werden zu können oder nicht menschlich zu sein).
5.Veränderungen in der Wahrnehmung des Täters, wie ständige Beschäftigung mit ihm (z. B. auch in Form von Rachegedanken); eine unrealistische Sichtweise des Täters als übermächtig (Vorsicht! Das Opfer kann die Macht des Täters unter Umständen realistischer einschätzen als der Therapeut); Idealisierung des Täters oder paradoxe Dankbarkeit ihm gegenüber; das Gefühl einer besonderen oder übernatürlichen Beziehung zum Täter; Übernahme von Weltanschauung oder Rechtfertigungen des Täters.
6.Veränderung der sozialen Beziehungen mit Isolation und Rückzug, Abbruch von intimen Beziehungen, fortgesetzte Suche nach einem Retter (kann wechseln mit Isolation und Rückzug), ständigem Misstrauen, wiederholtem Versagen beim Schutz der eigenen Person.
7.Veränderung von Stimmungslagen und Einstellungen wie Verlust von Zuversicht, Gefühle von Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung.
Tabelle 5: Vorläufige ICD-11 Kriterien für die komplexe Posttraumatische Belastungsstörung (Übers. A. G. F.)
Die komplexe posttraumatische Belastungsstörung (komplexe PTBS) ist ein Störungsbild, das sich nach dem Erleben eines einzelnen Ereignisses oder einer wiederholten Serie von Ereign issen, die extreme, dauerhafte oder repetitive Charakteristika zeigen und als besonders bedrohlich und erschreckend erlebt werden und vor denen eine Flucht schwierig oder unmöglich ist (z. B. Folter, Versklavung, Genozid, dauerhafte häusliche Gewalt, wiederholter sexueller oder physischer Kindesmissbrauch) entwickeln kann. Das Störungsbild ist charakterisiert durch die Kernsymptome der Posttraumatischen Belastungsstörung; dies bedeutet alle diagnostischen Voraussetzungen der Posttraumatischen Belastungsstörung lagen zu mindestens einem Zeitpunkt im Verlauf der Erkrankung vor. Zusätzlich ist die komplexe Posttraumatische Belastungsstörung durch folgende Merkmale bestimmt:
1)schwerwiegende und weitreichende Störung der Affektregulation;
2)andauernde