Rechtsmedizin. Ingo Wirth
Für die frühe Postmortalphase, also die ersten Stunden nach Eintritt des Todes, ist die Temperaturmessung zur Feststellung der Leichenabkühlung die wichtigste Methode der Todeszeitschätzung. Um aus dem Absinken der Körpertemperatur verwertbare Rückschlüsse auf die Todeszeit ziehen zu können, werden folgende Daten gebraucht:
• | Körpertemperatur, |
• | Umgebungstemperatur, |
• | Körpergewicht, |
• | Auffindungsumstände. |
Zur Feststellung der Körpertemperatur wird ein besonderes Thermometer benötigt, ein Fieberthermometer ist ungeeignet. Es lassen sich sowohl Glas- als auch elektronische Thermometer verwenden, die einen besonders langen Messansatz, eine Ablesegenauigkeit von 0,1 °C, einen Messbereich von 0 °C bis 45 °C aufweisen und geeicht sind. Das Thermometer ist mindestens 8–10 cm tief in den Mastdarm (Rektum) einzuführen und darf zum Ablesen nicht entfernt werden. Ein weiterer üblicher Messort ist der Bereich der Darmgekrösewurzel. Hierzu wird in der linken Unterbauchregion ein kleiner Schnitt angelegt und das Thermometer bzw. der Messfühler durch die Bauchdecke eingeführt. Da es sich um einen Eingriff in die Integrität des Körpers handelt, bleibt dieses Verfahren dem Arzt vorbehalten.
Auf die Abkühlung der Leiche hat die Umgebungstemperatur einen entscheidenden Einfluss. Um einen verlässlichen Messwert zu erhalten, muss die Temperatur so bald wie möglich in unmittelbarer Nähe des Körpers gemessen werden. Besonderheiten der Aufliegefläche müssen protokolliert werden (z. B. Fußbodenheizung, Isoliermatte, Betonfußboden). Eine rasche Temperaturfeststellung ist notwendig, um den Einfluss von Veränderungen am Leichenfundort auszuschließen. Auswirken können sich das Öffnen oder Schließen von Türen und Fenstern, das Betätigen der Heizung und nicht zuletzt die Anwesenheit mehrerer Personen. War die Umgebungstemperatur zwischen Todeseintritt und Zeitpunkt der Untersuchung nicht konstant, so ist von einem Mittelwert oder einem Umgebungstemperaturbereich auszugehen.
Das Körpergewicht darf nicht geschätzt, sondern muss exakt bestimmt werden. Im Regelfall erfolgt das Wiegen des unbekleideten Körpers vor der Leichenöffnung.
Schließlich müssen je nach Sachlage verschiedene Faktoren berücksichtigt werden, die Einfluss auf den Abkühlungsverlauf ausüben (z. B. Temperaturschwankungen während des Tages, Körperhaltung, Bekleidung und Bedeckung). Deshalb sind die Auffindungsumstände sorgfältig zu erfassen. Bei Leichenfunden im Freien können Informationen vom zuständigen Wetterdienst eingeholt werden.
Für die Todeszeitberechnung aus Mastdarm- und Umgebungstemperatur gibt es mathematische Formeln, Nomogramme und Computerprogramme. Davon hat sich für praktische Belange das Temperatur-Todeszeit-Bezugsnomogramm von Henßge durchgesetzt. Verwendet werden Nomogramme für Umgebungstemperaturen von 23,2 °C und darunter (Abbildung 4a) sowie für Umgebungstemperaturen von 23,3 °C und darüber (Abbildung 4b). Die Methode erlaubt bis etwa zur 30.–40. Stunde post mortem eine gute Abschätzung der Todeszeit.
Bei Verwendung des Nomogramms werden als Erstes die Rektaltemperatur der Leiche und die Umgebungstemperatur auf der entsprechenden Skala markiert und beide Punkte durch eine Gerade verbunden. Der Schnittpunkt dieser Geraden mit der Diagonalen des Nomogramms und der Mittelpunkt des Fadenkreuzes bilden die Bezugspunkte für eine zweite Gerade, die bis zum Kreisbogen des betreffenden Körpergewichts eingezeichnet werden muss. Am Schnittpunkt der zweiten Geraden mit der Körpergewichtskurve ist die Todeszeit in Stunden ablesbar. Auf dem äußersten Kreisbogen befindet sich der zugehörige 95 %-Toleranzbereich, der durch den Schnittpunkt der zweiten Geraden mit der äußersten Kurvenlinie angezeigt wird.
Als Standardbedingungen gelten:
• | nackte Leiche, trocken, |
• | gestreckte Rückenlage, |
• | thermisch neutrale Auflagefläche, |
• | ruhende Luft, |
• | Umgebung ohne starke Wärmequellen. |
Nichtstandard bedeutet abweichende Abkühlungsbedingungen. Für die Berechnung gibt es zur Berücksichtigung der Abweichungen von den Standardbedingungen der Leichenabkühlung verschiedene Korrekturfaktoren, mit denen das Körpergewicht multipliziert wird.
Abb. 4a:
Temperatur-Todeszeit-Bezugsnomogramm für Umgebungstemperaturen ≤ 23,2 °C nach Henßge [3]
Abb. 4b:
Temperatur-Todeszeit-Bezugsnomogramm für Umgebungstemperaturen ≥ 23,3 °C nach Henßge [3]
Die Schätzung der Todeszeit mit Hilfe des Nomogramms setzt spezielle Kenntnisse und praktische Erfahrungen voraus und bleibt deshalb dem Rechtsmediziner vorbehalten. Die Schwierigkeit bei der Anwendung des Nomogramms besteht nicht im Ablesen der Todeszeit, sondern vielmehr darin, die der Berechnung zugrunde gelegten Abkühlungsbedingungen qualifiziert einzuschätzen. Dazu werden Korrekturfaktoren angegeben, die zwischen 0,3 (nackte Leiche in fließendem Gewässer) und 3,0 (bekleidete Leiche unter dickem Bettzeug liegend) differieren. Weitere Schwierigkeiten treten auf, wenn die Körpertemperatur bei Todeseintritt von 37 °C abweicht, wie es bei fieberhaften Erkrankungen oder bei Unterkühlung vorkommt. Gleichfalls müssen Schwankungen der Umgebungstemperatur beachtet werden, beispielsweise dann, wenn die Leiche im Sommer im Freien liegt und der Körper nach Abkühlung in der Nacht am Tage durch Sonneneinstrahlung wieder erwärmt wird.
Um im Einzelfall die Ergebnisse der Todeszeitschätzung zu verbessern, empfiehlt sich die sog. Komplexmethode. Dabei dient das Nomogrammverfahren als Leitmethode. Weiterhin werden die Ausprägung der Totenflecke, der Totenstarre sowie der mechanischen und elektrischen Erregbarkeit der Skelettmuskulatur einbezogen. Die Pupillenreaktion auf das Einspritzen von Pharmaka sollte nicht mehr geprüft werden, da neuere Untersuchungen gezeigt haben, dass es auch zu spontanen Veränderungen der Pupillenweite kommen kann.
Als Verschleierungshandlung versuchen Täter gelegentlich die Schätzung der Todeszeit fehlzuleiten, indem sie Leichen vorübergehend in die Tiefkühltruhe oder in die Sauna verbringen. Daraus resultiert entweder eine Veränderung der Bezugsgröße Körpertemperatur oder eine Verzögerung bzw. Beschleunigung der Leichenveränderungen.
Unter der Voraussetzung, dass keine extremen Umgebungsbedingungen bestehen, erlauben folgende Feststellungen an der Leiche eine orientierende Schätzung der Todeszeit: