Staatsrecht III. Hans-Georg Dederer

Staatsrecht III - Hans-Georg Dederer


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      Beispiele:

      S. für den Jugendstrafvollzug BVerfGE 116, S. 69 ff, 90 f mit unspezifischem Bezug auf die „im Rahmen der Vereinten Nationen oder von Organen des Europarates beschlossenen einschlägigen Richtlinien und Empfehlungen“; für den Zustand von Untersuchunghafträumen BVerfG, EuGRZ 2008, S. 83 ff mit Verweis auf die „Europäischen Strafvollzugsgrundsätze“ des Europarats und auf die „im Rahmen der Vereinten Nationen erarbeiteten Mindestregeln für die Behandlung der Gefangenen“; zur medizinischen Zwangsbehandlung von im Maßregelvollzug Untergebrachten BVerfGE 128, S. 282 ff, 307 f, 313 unter Hinweis auf die „Grundsätze für den Schutz von psychisch Kranken und die Verbesserung der psychiatrischen Versorgung“ der VN; zu Einschlusszeiten von Untersuchungsgefangenen BVerfG, StV 2013, S. 521 ff und zur Unterbringung vollständig entkleideter Strafgefangener in einer videoüberwachten Zelle BVerfG, NJW 2015, S. 2100 ff, 2191, jeweils mit Hinweisen auf Jahresberichte des Europäischen Komitees zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe.

      248

      Aus der Völkerrechtsfreundlichkeit des GG hat das BVerfG außerdem die Pflicht aller Staatsorgane abgeleitet, Völkerrecht zu respektieren. Diese Pflicht soll drei Dimensionen haben (BVerfGE 112, S. 1 ff, 26):

      „Erstens sind die deutschen Staatsorgane verpflichtet, die die Bundesrepublik Deutschland bindenden Völkerrechtsnormen zu befolgen und Verletzungen nach Möglichkeit zu unterlassen… Zweitens hat der Gesetzgeber für die deutsche Rechtsordnung zu gewährleisten, dass durch eigene Staatsorgane begangene Völkerrechtsverstöße korrigiert werden können. Drittens können die deutschen Staatsorgane – unter hier nicht näher zu bestimmenden Voraussetzungen – auch verpflichtet sein, das Völkerrecht im eigenen Verantwortungsbereich zur Geltung zu bringen, wenn andere Staaten es verletzen.“

      249

      Insbesondere für die zuletzt genannte Pflichtendimension (= die Verpflichtung, „das Völkerrecht im eigenen Verantwortungsbereich zur Geltung zu bringen, wenn andere Staaten es verletzen“) greift eine weitere vom BVerfG angenommene Verpflichtung, nämlich (BVerfGE 112, S. 1 ff, 24):

      „auf seinem Territorium die Unversehrtheit der elementaren Grundsätze des Völkerrechts zu garantieren und bei Völkerrechtsverletzungen nach Maßgabe seiner Verantwortung und im Rahmen seiner Handlungsmöglichkeiten einen Zustand näher am Völkerrecht herbeizuführen.“

      Das hat die Richterin Lübbe-Wolff in ihrem Sondervotum markant kritisiert (BVerfGE 112, S. 1 ff, 47 ff), insbesondere mit dem folgenden Hinweis (S. 49):

      „Das Völkerrecht enthält weder einen allgemeinen Grundsatz des Inhalts, dass Staaten zur Durchsetzung des Völkerrechts gegen Verstöße seitens anderer Staaten oder zur Abmilderung und zum Ausgleich der Folgen solcher Verstöße verpflichtet sind, noch Grundsätze, die entsprechende Pflichten für die vorliegende Fallkonstellation begründen. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist dementsprechend bisher davon ausgegangen, dass der deutsche Staat für Völkerrechtsverletzungen anderer Staaten nicht einzustehen hat (BVerfGE 84, 90 [123 f], m.w.N.) … Der Senat selbst behauptet auch gar nicht, dass eine völkerrechtliche Verpflichtung dieses Inhalts bestehe; er präsentiert die Verpflichtung nicht als völkerrechtliche, sondern als verfassungsrechtliche. Wie allerdings aus einer verfassungsrechtlichen Pflicht zur Respektierung des Völkerrechts Pflichten hervorgehen können, die das Völkerrecht selbst nicht enthält, bleibt unerklärt.“

      250

      

      Die Pflicht aller Staatsorgane, Völkerrecht zu respektieren, gilt auch zB für die Bundeswehr bei Auslandseinsätzen (Rn 1270 ff). Der BGH hat es allerdings abgelehnt, die Völkerrechtsfreundlichkeit des GG für eine Haftung des deutschen Staates wegen Völkerrechtsverstößen der Bundeswehr heranzuziehen. Vielmehr stehe das Prinzip der Völkerrechtsfreundlichkeit einer Ausdehnung des Amtshaftungsanspruchs (§ 839 BGB iVm Art. 34 GG) auf Schäden, die ausländischen Bürgern von Soldaten der Bundeswehr im Rahmen von Auslandseinsätzen im Zuge eines bewaffneten Konflikts zugefügt werden, entgegen. Denn eine solche Staatshaftung könne die gemäß Art. 24 Abs. 2 GG gewollte Integration Deutschlands in Systeme kollektiver Sicherheit (Rn 1167 ff) erheblich beeinträchtigen. Nach Auffassung des BGH dürfe (BGHZ 212, S. 173 ff, … Rz 38):

      „nicht übersehen werden, dass das Risiko einer kaum abschätzbaren Haftung dazu führen könnte, dass humanitär motivierte bewaffnete Auslandseinsätze der Bundeswehr reduziert oder gar gänzlich eingestellt würden …. Aus Sicht zum Beispiel der NATO-Partner, deren nationale Rechtsordnungen individuelle Schadensersatzansprüche wegen Verstößen ihrer Streitkräfte gegen das humanitäre Völkerrecht nicht vorsehen …, wären die deutschen Streitkräfte auf Grund des Damokles-Schwertes der – auch gesamtschuldnerischen – Amtshaftung nur noch bedingt bündnis- und kampfeinsatzfähig … .“ (aA Sauer, DÖV 2019, S. 713 ff, 721 f).

      § 2 Völkerrecht, Europarecht und nationales Recht › C. „Offene Staatlichkeit“ › III. Europarechtsfreundlichkeit des GG

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      Der Grundsatz der „Europarechtsfreundlichkeit“ des GG ist noch vergleichsweise wenig konturiert. Ihn hat das BVerfG erst spät, nämlich im Lissabon-Urteil folgendermaßen postuliert (BVerfGE 123, S. 267 ff, 347):

      „Das Grundgesetz will eine europäische Integration und eine internationale Friedensordnung: Es gilt deshalb nicht nur der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit, sondern auch der Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit.“

      252

      

      Auch dieser Grundsatz lässt sich dem GG nicht explizit entnehmen, sondern nur etwa aus Satz 1 der Präambel und Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG entwickeln (vgl BVerfGE 123, S. 267 ff, 401).

      253

      

      Die Funktion des Grundsatzes der Europarechtsfreundlichkeit des GG besteht zunächst darin, den Kontrollbefugnissen des BVerfG in Bezug auf das Unionsrecht Grenzen zu setzen (vgl BVerfGE 123, S. 267 ff, 354; 140, S. 317 ff, 339; 142, S. 123 ff, 204 f). Der Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit bildet so gesehen eine Kompetenzausübungsschranke. Konkretere Folgerungen hat das BVerfG insoweit für die Ultra-vires-Kontrolle gezogen (BVerfGE 126, S. 286 ff, 303 ff; s. Rn 201 ff).

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      Darüber hinaus soll der Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit das Verwerfungsmonopol des BVerfG hinsichtlich des Unionsrechts rechtfertigen. Über den Geltungsanspruch des Unionsrechts soll sich nicht jede Behörde und jedes Gericht hinwegsetzen können. Vielmehr sei die Unanwendbarerklärung von Unionsrecht „zum Schutz der Funktionsfähigkeit der unionalen Rechtsordnung“ allein dem BVerfG vorbehalten. Das hat das BVerfG sowohl für die Ultra-vires-Kontrolle als auch für die Identitätskontrolle festgehalten (BVerfGE 123, S. 267 ff, 254; 140, S. 317 ff, 337; 142, S. 123 ff, 203 f).

      § 2 Völkerrecht, Europarecht und nationales Recht › C. „Offene Staatlichkeit“ › IV. Souveränitätsvorbehalt

      255

      Das BVerfG hat die „offene Staatlichkeit“ des GG unter den Vorbehalt nationaler Souveränität gestellt (BVerfGE 111, S. 307 ff, 319):

      „Das


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