Besteuerung von Unternehmen II. Wolfram Scheffler

Besteuerung von Unternehmen II - Wolfram Scheffler


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Prinzipien ansatzweise auch Elemente der deduktiven Methode und der induktiven Ermittlung enthält. Abb. 5: Teleologische Ermittlung der GoB kein Alternativtext verfügbar [Bild vergrößern] – Bei der Konkretisierung der GoB handelt es sich um einen permanenten Auslegungsvorgang, da die aus dem Vorverständnis und aus Wertentscheidungen des Rechtsanwenders abgeleiteten Lösungen beim Auftreten von neuen bilanzierungsrelevanten Geschäftsvorgängen oder beim Zugang von neuen Informationen immer wieder überprüft werden müssen. Bei einer Veränderung der gesetzlichen Rahmenbedingungen oder der Auffassung der an dem Auslegungsprozess beteiligten Personen ist es nicht ausgeschlossen, dass der Inhalt der GoB modifiziert wird. – Da jeder Rechtsanwender aufgrund seines unterschiedlichen Wissens über die relevanten Einflussfaktoren und seiner durch Wertentscheidungen beeinflussten Interpretation der Materialien den Inhalt der GoB festlegt, führt der Auslegungsprozess nicht zu einem intersubjektiv einheitlichen Ergebnis, vielmehr handelt es sich (zumindest in Teilbereichen) immer auch um eine subjektive Gesetzesinterpretation. Dies ist auch der Grund dafür, dass für zahlreiche Bilanzierungs- und Bewertungsfragen unterschiedliche Lösungen vertreten werden.

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      Anmerkungen

       [1]

      Statt aller Rieger, Einführung in die Privatwirtschaftslehre, 3. Aufl., Erlangen 1984, S. 236–238.

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      Die Einblicksforderung, die in Anlehnung an den angelsächsischen Sprachgebrauch auch als Grundsatz des True and Fair View bezeichnet wird, leitet sich aus der Aussage ab, dass der Jahresabschluss einer Kapitalgesellschaft ein den wirtschaftlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens–, Finanz- und Ertragslage zu vermitteln hat (§ 264 Abs. 2 HGB). Für Einzelunternehmen und Personengesellschaften wird gefordert, dass der Jahresabschluss einen Überblick über die Lage des Unternehmens vermitteln soll (§ 238 Abs. 1 HGB).

      Durch die subsidiäre Anwendung der Einblicksforderung ist es nach deutschem Bilanzrecht nicht zulässig, die Bilanzierung und Bewertung so zu gestalten, dass sie ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens–, Finanz- und Ertragslage vermitteln, wenn dadurch gegen den Wortlaut einer bestimmten Vorschrift verstoßen wird.

      Beispiel:

      Die Anschaffungskosten eines unbebauten Grundstücks belaufen sich auf 500 000 €. Zwischenzeitlich ist sein Wert auf 2 000 000 € gestiegen. Der Ausweis des aktuellen Verkehrswerts von 2 000 000 € würde zwar der Einblicksforderung besser gerecht. Nach § 253 Abs. 1 S. 1 iVm § 252 Abs. 1 Nr 4 HGB bilden aber die Anschaffungskosten des Grundstücks die Wertobergrenze. Deshalb ist der Ansatz des höheren Tageswerts unzulässig.

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      Nach der zurzeit vorgenommenen Interpretation der gesetzlichen Regelung wird die Bedeutung der Einblicksforderung noch weiter eingeschränkt. Wahlrechte und Ermessensspielräume müssen nicht so ausgeübt werden, dass der Jahresabschluss die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage am besten widerspiegelt. Die Unternehmen können sich vielmehr für jeden Wert innerhalb der gesetzlich zulässigen Bandbreite entscheiden. Ergebnis der herrschenden Meinung ist, dass die Einblicksforderung für die Praxis der handelsrechtlichen und der steuerrechtlichen Rechnungslegung fast keine Bedeutung hat. Es handelt sich nahezu um eine Leerformel. Durch den Vorrang der (speziellen) Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung vor der (allgemeinen) Einblicksforderung wird gegen die Informationsfunktion der externen Rechnungslegung verstoßen. Dies gilt nicht nur für die Handelsbilanz, sondern auch für die Steuerbilanz. Damit verbunden ist, dass die Zahlungsbemessungsfunktion – Ermittlung der Bemessungsgrundlage für gewinnabhängige Zahlungen (Ausschüttungen, Erfolgsbeteiligungen, Ertragsteuern) – höher gewichtet wird als die Informationsfunktion.

      Im internationalen Bereich wird die Bedeutung der Einblicksforderung demgegenüber wesentlich höher gewichtet, weil entweder gefordert wird, dass Wahlrechte und Ermessensspielräume so auszuüben sind, dass die Einblicksforderung nicht verletzt wird, oder weil die Einblicksforderung als Generalnorm interpretiert wird, aus der die konkreten Bilanzierungs- und Bewertungsentscheidungen abzuleiten sind (so insbesondere nach den US-GAAP). Nach Ansicht des EuGH bildet der Grundsatz der Bilanzwahrheit und damit die Einblicksforderung bei der Auslegung der in der 4. EG-Richtlinie (heute Rechnungslegungsrichtlinie) enthaltenen Bilanzierungs- und Bewertungsregeln die wichtigste Leitlinie. Diese Aussage ist deshalb so bedeutsam, weil die 4. EG-Richtlinie die Grundlage für die im Handelsgesetzbuch enthaltenen Vorschriften zum Jahresabschluss bildet. Über die Maßgeblichkeit der Handels- für die Steuerbilanz ist die 4. EG-Richtlinie mittelbar auch für die steuerliche Gewinnermittlung bedeutsam.

      Anmerkungen

       [1]

      Siehe hierzu auch EuGH vom 3.10.2013 (GIMLE), ECLI:EU:C:2013:632.


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