Besteuerung von Unternehmen II. Wolfram Scheffler
beinhaltet das Gebot der materiellen Vollständigkeit, dass sämtliche bilanzierungs- und bewertungsrelevanten Vorgänge berücksichtigt werden müssen (§ 246 Abs. 1 HGB). Aus diesem Gebot folgt, dass in der Buchführung alle relevanten Geschäftsvorfälle zu erfassen sind, dass in der Bilanz die aktiven und passiven Bilanzposten ohne Ausnahme anzusetzen sind, dass in der Gewinn- und Verlustrechnung alle Aufwendungen und Erträge enthalten sein müssen sowie dass der unter bestimmten Voraussetzungen aufzustellende Anhang und Lagebericht die geforderten Angaben vollständig zu umfassen haben.
Abb. 7:
Bestandteile des Grundsatzes der Vollständigkeit
Eine Ausnahme vom Vollständigkeitsgebot gilt für selbst erstellte immaterielle Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens. Aufgrund der stärkeren Betonung des Vorsichtsprinzips und des Objektivierungsgedankens gilt für diese Wirtschaftsgüter in der Steuerbilanz ein Aktivierungsverbot (§ 5 Abs. 2 EStG). In der Handelsbilanz wird demgegenüber der Informationsfunktion stärkeres Gewicht eingeräumt. Der Zielkonflikt zwischen Zahlungsbemessungsfunktion und Informationsfunktion wird dadurch berücksichtigt, dass handelsrechtlich für selbst erstellte immaterielle Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens ein Aktivierungswahlrecht eingeräumt wird (§ 248 Abs. 2 HGB), die Höhe der maximal möglichen Gewinnausschüttungen sich aber so bestimmt, als ob diese Wirtschaftsgüter nicht aktiviert worden wären (Ausschüttungssperre, § 268 Abs. 8 S. 1 HGB).
Das Vollständigkeitsgebot wird darüber hinaus durch den Grundsatz der Nichterfassung von schwebenden Geschäften eingeschränkt. Ein schwebendes Geschäft liegt vor, wenn bei einem zweiseitig verpflichtenden Vertrag noch keiner der Vertragspartner die vereinbarte Lieferung oder Leistung erbracht hat. Für die Zeitspanne zwischen Vertragsabschluss und Vertragserfüllung durch mindestens einen der Vertragspartner dürfen die aus dem Geschäft resultierenden Ansprüche und Verpflichtungen nicht in die Bilanz aufgenommen werden. Der Grundsatz der Nichterfassung von schwebenden Geschäften lässt sich auch aus drei anderen Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung ableiten: (1) Aus dem Realisationsprinzip[1] folgt, dass der Gewinn aus einem Geschäft erst ausgewiesen werden darf, wenn das bilanzierende Unternehmen seine eigene Leistung in dem Umfang erbracht hat, dass die Preisgefahr übergegangen ist. Würden Ansprüche und Verpflichtungen aus schwebenden Geschäften bilanziell erfasst, müsste deren Bewertung in der Bilanz mit dem gleichen Wert erfolgen. Eine höhere Bewertung der Ansprüche gegenüber dem Vertragspartner als die Bewertung der eigenen Verpflichtung würde gegen das aus dem Realisationsprinzip abzuleitende Ertragsantizipationsverbot verstoßen. (2) Eine übereinstimmende Bewertung von Anspruch und Verpflichtung würde zu einer Verlängerung der Bilanz führen, ohne dass sich deren Aussagekraft erhöhen würde. Die Nichterfassung von schwebenden Geschäften lässt sich deshalb auch mit dem Grundsatz der Klarheit und Übersichtlichkeit begründen. (3) Die erfolgsneutrale Erfassung von schwebenden Geschäften aufgrund des Realisationsprinzips wäre mit einem erheblichen Arbeitsaufwand verbunden. Für das Gebot der Nichterfassung von schwebenden Geschäften spricht also auch der Grundsatz der Wirtschaftlichkeit.[2]
Der Grundsatz der Nichterfassung von schwebenden Geschäften gilt nicht, wenn erkennbar ist, dass die eigene Leistung höher ist als die zu erwartende Gegenleistung. Das Imparitätsprinzip fordert in diesem Fall, dass der aus einem schwebenden Geschäft zu erwartende Verpflichtungsüberhang (Verlust) bereits in der Periode zu erfassen ist, in der der negative Erfolgsbeitrag entstanden ist.[3]
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(3) Materielle Vollständigkeit in zeitlicher Hinsicht: Der Kerngedanke der Forderung nach materieller Vollständigkeit in zeitlicher Hinsicht besteht darin, dass der Zeitraum, über den zu berichten ist, mit dem Zeitraum übereinstimmen muss, über den Informationen ausgewertet werden. Dies bedeutet, dass sämtliche im abgelaufenen Wirtschaftsjahr angefallenen bilanzierungs- und bewertungsrelevanten Vorgänge zu berücksichtigen sind. Informationen, die sich auf Vorgänge beziehen, die außerhalb des abgelaufenen Wirtschaftsjahres liegen, sind in dem betreffenden Jahresabschluss auszuwerten.
Da im Regelfall der Zeitpunkt, zu dem der Jahresabschluss aufgestellt wird, nicht mit dem Ende des Wirtschaftsjahres (Abschlussstichtag) übereinstimmt, geht der Zeitraum, in dem bilanzierungs- und bewertungsrelevante Informationen gesammelt werden, über den Berichtszeitraum (das abgelaufene Wirtschaftsjahr) hinaus. Des Weiteren verfügt der Ersteller des Jahresabschlusses auch über Informationen, die sich nicht auf das vergangene Wirtschaftsjahr beziehen, sondern auf die Zukunft. Damit ergeben sich zwei Abgrenzungsprobleme:
– | In welchem Umfang werden Informationen über zukünftige, erst nach dem Abschlussstichtag eintretende Entwicklungen im Jahresabschluss berücksichtigt? Die Antwort ist aus dem Stichtagsprinzip abzuleiten. |
– | Wie werden Informationen behandelt, die dem Bilanzierenden zwischen dem Abschlussstichtag und dem Zeitpunkt der Bilanzerstellung bekannt werden? In diesem Zusammenhang sind wertbegründende Informationen von werterhellenden Informationen abzugrenzen. |
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(a) Nach dem Stichtagsprinzip sind zum einen das in einer Bilanz erfasste Vermögen und die darin enthaltenen Schulden zum Abschlussstichtag zu bewerten und zum anderen die im abgelaufenen Wirtschaftsjahr entstandenen Erträge und Aufwendungen zu erfassen (§ 252 Abs. 1 Nr 3, 4 HGB). Hieraus leitet sich ab, dass Informationen, die am Abschlussstichtag vorhanden sind, insoweit nicht auszuwerten sind, als sie ein in zukünftigen Perioden zu erwartendes Ereignis betreffen.
Der Jahresabschluss soll über die Veränderung der wirtschaftlichen Lage des Unternehmens im abgelaufenen Wirtschaftsjahr berichten. Der Grundgedanke einer Übereinstimmung von Berichtszeitraum und Zeitraum der Informationsauswertung bleibt nur dann gewahrt, wenn von den am Abschlussstichtag bestehenden Verhältnissen ausgegangen wird und Informationen, die in nachfolgenden Wirtschaftsjahren zu erwartende Ereignisse betreffen, erst in zukünftigen Perioden ausgewertet werden. In der für das abgelaufene Wirtschaftsjahr aufgestellten Bilanz sind die zukunftsbezogenen Informationen auch dann nicht zu verarbeiten, wenn sie sich auf ein Ereignis beziehen, das in der Zukunft mit Sicherheit eintreten wird.
Das Stichtagsprinzip leitet sich aus der Zahlungsbemessungsfunktion ab, wonach der im abgelaufenen Jahr entstandene Gewinn zu ermitteln ist. Bezieht man die Informationsfunktion darauf, dass über die in der abgelaufenen Periode eingetretene Veränderung der wirtschaftlichen Lage zu berichten ist, besteht zwischen der Zahlungsbemessungsfunktion und der Informationsfunktion kein Zielkonflikt.
Im Rahmen der handelsrechtlichen Rechnungslegung wird allerdings bei der Bewertung von Rückstellungen das Stichtagsprinzip in einer anderen Weise interpretiert. Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten sind in der Handelsbilanz mit dem Erfüllungsbetrag zu bewerten (§ 253 Abs. 1 S. 2 HGB). Dies bedeutet, dass zukünftige Preis- und Kostensteigerungen werterhöhend einzubeziehen sind. Diese Vorgehensweise begründet sich damit, dass im Jahresabschluss die Höhe der voraussichtlich anfallenden Zahlungsverpflichtung offen zu legen ist. Die Informationsfunktion wird insoweit zukunftsbezogen interpretiert. Demgegenüber wird das Stichtagsprinzip in der Steuerbilanz in der Weise ausgelegt, dass eine Bewertung auf der Grundlage der am Bilanzstichtag geltenden Verhältnisse vorzunehmen ist. Damit bleiben im Rahmen der steuerlichen Gewinnermittlung zukünftige Preis- und Kostensteigerungen unberücksichtigt (§ 6 Abs. 1 Nr 3a Buchst. f EStG). Die unterschiedliche Auslegung des Stichtagsprinzips ist wiederum auf den Objektivierungsgedanken zurückzuführen: Die am Bilanzstichtag geltenden Wertverhältnisse lassen sich leichter bestimmen als die im Zeitpunkt der Erfüllung