BGB-Schuldrecht Allgemeiner Teil. Harm Peter Westermann
unzumutbar“ wäre.[92] Wenn Verbraucher Widerrufsrechte ausüben, handeln sie etwa in Ausnahmefällen rechtsmissbräuchlich iSd § 242, nämlich dann, wenn der Unternehmer besonders schutzbedürftig ist oder der Verbraucher arglistig oder schikanös handelt.[93] Das hat der BGH allerdings etwa in einem Fall verneint, in dem der Verbraucher unter Hinweis auf ein günstigeres Alternativangebot um Erstattung des Differenzbetrags gebeten hatte und – als der Unternehmer sich darauf nicht einließ – zurückgetreten war.[94] Bei Eheverträgen kann die Ausübung der vertraglichen Rechte rechtsmissbräuchlich sein, wenn sie zu einer unzumutbaren Lastenverteilung führen würde.[95]
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Unzulässige Rechtsausübung kann sich auch daraus ergeben, dass man zuvor selbst unfair gehandelt hat: Wer eine rechtliche Befugnis selbst unredlich herbeiführt, darf sich auf diese Befugnis gem. § 242 nicht berufen (turpitudinem suam allegans non audiatur).[96] Dieser Gedanke liegt auch § 162 zugrunde, der den vom Anspruchsgegner treuwidrig verhinderten Eintritt einer Bedingung fingiert. Er kommt aber auch als Topos für die Anwendung des § 242 vor. Ein in der Literatur diskutiertes Beispiel bietet § 124: Wer zu einem Vertragsschluss durch arglistige Täuschung bestimmt wurde, muss binnen Jahresfrist anfechten. Steht nach Fristablauf § 242 der Inanspruchnahme aus dem Vertrag gleichwohl entgegen? Vorschnell darf man das nicht bejahen, wenn § 124 nicht ausgehöhlt werden soll.[97] § 242 kann man jedoch – auch in Klausuren – guten Gewissens in Anschlag bringen, wenn der Täuschende den Anfechtungsberechtigten auch noch bewusst veranlasst hatte, die Anfechtungsfrist verstreichen zu lassen.[98]
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Vorverhalten muss nicht unbedingt unredlich sein, um Rechtsmissbrauch zu begründen. Das zeigt die nächste Unterfallgruppe. Rechtsmissbrauch kann sich nämlich auch daraus ergeben, dass die Ausübung eines Rechts im Widerspruch zu eigenem (nicht notwendigerweise für sich genommen sanktionierbarem) Vorverhalten steht (venire contra factum proprium). § 242 steht deshalb der Inanspruchnahme eines Bürgen durch eine Bank entgegen, wenn die Bank selbst den wirtschaftlichen Zusammenbruch des Hauptschuldners schuldhaft verursacht und jede Regressmöglichkeit des Bürgen (gegen den Hauptschuldner) vereitelt.[99] Ein weiteres Beispiel betrifft die Inhaltskontrolle Allgemeiner Geschäftsbedingungen, deren primäre Rechtsfolge ja in der Unwirksamkeit einer Vertragsbestimmung liegt. Wer aber die unwirksame Klausel selbst verwendet hat, darf sich auf die Unwirksamkeit nach Treu und Glauben nicht berufen.[100] Auch die Einschränkung des § 142 Abs. 1 gehört hierher: Wenn der Anfechtungsgegner die Erklärung mit dem vom Anfechtenden wirklich gewollten Inhalt gelten lassen will, darf sich der Anfechtende nicht auf § 142 Abs. 1 berufen,[101] da er andernfalls § 142 Abs. 1 instrumentalisieren würde, um sich im Widerspruch zu seinem eigenen Verhalten zu setzen. Der Anfechtende soll nicht vor einem Vertrag des Inhalts geschlossen werden, den er ja selbst wollte.
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Auch die Berufung auf die Formnichtigkeit (§ 125) kann rechtsmissbräuchlich sein.[102] Die Hürden sind hoch, andernfalls würden die Formvorschriften und ihre Zwecke ad absurdum geführt. Die Berufung auf Formnichtigkeit kann aber in zwei Fallgruppen gegen § 242 verstoßen: Bei Existenzgefährdung einer Partei und in Fällen besonders schwerer Treuepflichtverletzungen. Allerdings kommt die Anwendung von § 242 nur in Ausnahmefällen in Betracht, auch in der Rechtsprechung wird sie in aller Regel abgelehnt. Es genügt nicht, dass die Nichtigkeit eine Seite „hart trifft“.[103] Vielmehr muss die Nichtigkeitsfolge „schlechthin untragbar“ für eine Partei sein.[104] Der BGH hat diese strengen Voraussetzungen etwa in einem Fall zur Anwendung gebracht, in dem ein 63-jähriger einfacher Handwerker ohne juristische Vorbildung unter Aufwendung seiner gesamten Ersparnisse ein Eigenheim erwerben wollte, um dort seinen Lebensabend verbringen zu können.[105] Er hatte seine frühere Wohnung aufgegeben und war bereits eingezogen, obwohl der Vertrag nicht notariell beurkundet und daher formnichtig gem. § 125 war. Nach Einschätzung des BGH wäre es einem Existenzverlust des Handwerkers gleichgekommen, wenn er das Eigenheim aufgeben und sich einen neuen Alterssitz hätte suchen müssen.[106]
Auch in Fall 2 lässt sich begründen, dass § 242 der Berufung auf die Formnichtigkeit entgegensteht: Gegenüber dem früheren Angestellten besteht eine Ungleichgewichtslage. Auch hat U gegenüber A ausdrücklich behauptet, einen privatschriftlichen Vertrag als gleichwertig zu betrachten. Darauf vertraute A. Dass sich U später entgegen seiner ausdrücklichen Behauptung auf die Formnichtigkeit beruft, ist rechtsmissbräuchlich (so auch BGH NJW 1968, 39). Auch die Gegenauffassung ist gut vertretbar: Formvorschriften sind strenges Recht, allzu großzügige Einschränkungen über § 242 gefährden die Rechtssicherheit. Dass A als Angestellter sich U gegenüber nicht recht traute, auf notarielle Beurkundung zu bestehen, ist verständlich. Der Mangel an Mut geht aber zu seinen Lasten, zumal er von der notariellen Beurkundungspflicht wusste.
bb) Verwirkung
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Auch die Verwirkung von Rechten lässt sich der unzulässigen Rechtsausübung zuordnen. Sie betrifft die illoyale Verspätung der Rechtsausübung. Als Ausfluss von Treu und Glauben ist die Verwirkung grundsätzlich neben dem Verjährungsrecht anwendbar. Praktisch ist die Verwirkung umso weniger wichtig, je kürzer die Verjährungsfrist ist, weil sich bei einem (frühen) Eintritt der Verjährung ein Rückgriff auf die Verwirkung oft erübrigt.[107] Grundsätzlich kann die Verwirkung alle subjektiven Rechte erfassen,[108] auch etwa Widerrufsrechte.[109] Die Verwirkung steht der Geltendmachung von Ansprüchen entgegen, wenn der Vertragspartner bereits darauf vertrauen durfte, dass keine Forderungen mehr geltend gemacht werden, und er sich hierauf auch bereits eingerichtet hat. Das setzt erstens voraus, dass der Gläubiger ein Recht über längere Zeit hinweg nicht geltend gemacht hat, obwohl er es hätte geltend machen können (Zeitmoment). Die Länge des Zeitraums hängt vom Einzelfall ab. Die regelmäßige Verjährungsfrist von drei Jahren kann nach der Rechtsprechung des BGH nur unter ganz besonderen Umständen weiter durch Verwirkung abgekürzt werden,[110] denn sie lässt dem Gläubiger ohnehin wenig Zeit für die Rechtsdurchsetzung. Zweitens sind besondere Umstände erforderlich, wegen derer der Schuldner darauf vertrauen durfte, dass der Gläubiger die Forderung nicht mehr geltend machen wird (Umstandsmoment).[111] Der Zeitablauf allein genügt also nicht. Das Umstandsmoment der Verwirkung muss stets aus den Besonderheiten des Einzelfalls heraus unter Abwägung der betroffenen Interessen begründet werden. Dabei können auch Vertrauensdispositionen eine Rolle spielen.[112]
In Fall 3 verweigert V die Unterhaltsnachzahlungen mit der Begründung, dem Anspruch stehe die mittlerweile verstrichene Zeit entgegen. Dass die Verjährungsfrist von drei Jahren aus § 195 hier noch nicht abgelaufen ist, lässt sich mit Blick auf die Daten unschwer feststellen. Daher kann V sich höchstens auf eine Verwirkung als Unterfall von § 242 stützen. Zunächst mag man sich fragen, ob eine Verwirkung ausgeschlossen ist, weil § 207 Abs. 1 S. 2 Nr 2 für Ansprüche von Kindern gegen ihre Eltern eine Verjährungshemmung ausspricht, um die Anspruchsberechtigten vor einem zeitlich bedingten Verlust von Ansprüchen bis zur Vollendung ihres 21. Lebensjahres zu schützen. Einen generellen Ausschluss der Verwirkung aus diesem Grund lehnte der BGH ab, allerdings müsse die Verwirkung im Einzelfall gut begründet sein.[113] Bei der Prüfung der Verwirkung bejahten die Richter das Zeitmoment mit dem Argument, der Unterhalt sei bewusst an die aktuellen Lebensverhältnisse gekoppelt, weshalb er sowieso nur ausnahmsweise rückwirkend bewilligt werden könne. Außerdem sei der Gläubiger (S) schon im Eigeninteresse dazu angehalten gewesen, zügig auf die Berechnung der Unterhaltssumme durch V zu reagieren.[114] Allerdings fehlte es nach Ansicht des BGH am Umstandsmoment: V durfte nicht allein aufgrund der fehlenden Reaktion von S davon ausgehen, dass dieser die Summe hingenommen oder gleich ganz auf Unterhalt verzichtet habe. Ein berechtigtes Vertrauen darauf, dass S auch in Zukunft von einer weitergehenden Geltendmachung absehen würde, sei nicht gegeben.[115] Daher ist keine Verwirkung eingetreten.
c) Korrektur rechtlicher Befugnisse
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