Europarecht. Bernhard Kempen
Beschränkung liegt auch vor, wenn die Erteilung einer behördlichen Erlaubnis von einer bestimmten beruflichen Qualifikation abhängig gemacht wird (EuGH, Urt. v. 25.7.1991, C-76/90 – Säger –, Rn. 14; Urt. v. 17.12.2015, C-342/14 – X-Steuerberatungsgesellschaft –, Rn. 49).
555
Angesichts der Weite des Beschränkungsverbotes wird in der Literatur überwiegend gefordert, die Einschränkung im Bereich der Warenverkehrsfreiheit durch die Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache Keck (EuGH, Urt. v. 24.11.1993, C-267/91 u.a. – Keck –, Rn. 17) auf die Dienstleistungsfreiheit zu übertragen. Damit wären lediglich Beschränkungen des Marktzugangs erfasst, nicht aber den Verkaufsmodalitäten entsprechende Regelungen zu den Modalitäten der Erbringung der Dienstleistungen. Einige Urteilsbegründungen des EuGH deuten darauf hin, dass er seine Rechtsprechung in diesem Sinne auf die Dienstleistungsfreiheit übertragen will. So hat der EuGH etwa in der Rechtssache Alpine Investments ausdrücklich eine Prüfung anhand der Vorgaben der Keck-Rechtsprechung bejaht, in der Sache allerdings eine Beschränkung des Marktzugangs angenommen (EuGH, Urt. v. 10.5.1995, C-384/93 – Alpine Investments –, Rn. 33 ff.). In der Rechtssache Mobistar wurde eine unterschiedslos anwendbare Maßnahme, die in- und ausländische Anbieter gleichermaßen belastete und die grenzüberschreitende Leistungserbringung gegenüber der Tätigkeit von Inländern nicht erschwerte, als mit der Dienstleistungsfreiheit vereinbar angesehen, ohne aber ausdrücklich die Keck-Rechtsprechung zu übernehmen (EuGH, Urt. v. 8.9.2005, C-544/03 – Mobistar –, Rn. 35). Die Rechtslage ist daher weiterhin offen.
3. Beeinträchtigungen durch Private
556
Wie im Bereich der → Arbeitnehmerfreizügigkeit und der → Niederlassungsfreiheit können Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit auch von Privaten ausgehen. Der EuGH hat dies zum einen für Regelwerke nicht öffentlich-rechtlicher Art entschieden, die die Erbringung von Dienstleistungen kollektiv regeln sollen. Hierzu zählen etwa von Sportvereinigungen aufgestellte Regelwerke (EuGH, Urt. v. 11.4.2000, C-51/96 – Deliege –, Rn. 47). Darüber hinaus kann die Durchführung kollektiver Maßnahmen durch Gewerkschaften des Aufnahmemitgliedstaates eine Beeinträchtigung der Dienstleistungsfreiheit darstellen. Der EuGH beurteilte konkret eine gewerkschaftlich organisierte Blockade einer Baustelle, die mit dem Ziel erfolgte, den Unternehmer zum Beitritt zu einem Bautarifvertrag zu bewegen, als Beeinträchtigung der Dienstleistungsfreiheit (EuGH, Urt. v. 18.12.2007, C-341/05 – Laval –, Rn. 99). Eine weitergehende Erstreckung der Dienstleistungsfreiheit auf Privatpersonen entsprechend der Rechtsprechung zur Arbeitnehmerfreizügigkeit ist bislang nicht erfolgt.
D › Dienstleistungsfreiheit (Michael Rafii) › V. Rechtfertigung
V. Rechtfertigung
557
Eine Beeinträchtigung der Dienstleistungsfreiheit ist zulässig, wenn sie entweder aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit oder im Falle diskriminierungsfreier Beschränkungen aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist sowie dazu geeignet ist, die Erreichung des mit ihr verfolgten Ziels zu gewährleisten und nicht über das zur Erreichung des Ziels erforderliche Maß hinausgeht (EuGH, Urt. v. 9.3.2017, C-342/15 – Piringer –, Rn. 53).
1. Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes
558
Die Rechtfertigung einer Beeinträchtigung der Dienstleistungsfreiheit setzt in einem ersten Prüfungsschritt einen Rechtfertigungsgrund voraus.
a) Ordre-Public-Klausel
559
Aufgrund des Verweises in Art. 62 AEUV auf Art. 52 Abs. 1 AEUV sind im Bereich der Dienstleistungsfreiheit Beeinträchtigungen zulässig, wenn sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind. Der Rechtfertigungsgrund gilt gleichermaßen für unmittelbare und mittelbare Diskriminierungen sowie Beschränkungen.
560
Die Begriffe öffentliche Ordnung, öffentliche Sicherheit und öffentliche Gesundheit in Art. 52 Abs. 1 AEUV sind eng auszulegen. Eine Rechtfertigung ist nur möglich, wenn eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (EuGH, Urt. v. 14.10.2004, C-36/02 – Omega –, Rn. 30). Eine Rechtfertigung aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit hat der EuGH bei einer Maßnahme angenommen, die der Bekämpfung des Drogentourismus und der damit einhergehenden Belästigungen diente (EuGH, Urt. v. 16.12.2010, C-137/09 – Josemans –, Rn. 65 f.). Auch das Verbot des Betriebs des „Laserdrome“, bei dem der Zweck im spielerischen Töten von Menschen lag, war nach Ansicht des EuGH aus Gründen der öffentlichen Ordnung gerechtfertigt (EuGH, Urt. v. 14.10.2004, C-36/02 – Omega –, Rn. 41).
b) Zwingende Erfordernisse des Gemeinwohls
561
Unterschiedslos auf In- und Ausländer anwendbare Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit können durch zwingende Erfordernisse des Gemeinwohls gerechtfertigt werden. Der Rechtfertigungsgrund der zwingenden Erfordernisse kann nach herrschender Meinung in der Literatur zudem für indirekte, nicht aber für direkte Diskriminierungen herangezogen werden (→ Grundfreiheiten: Allgemeine Lehren).
562
Ein festgelegter Kanon der als zwingende Erfordernisse anzuerkennenden Gemeinwohlbelange besteht nicht. Den Mitgliedstaaten wird ein gewisser Spielraum bei der Bestimmung der besonders schützenswerten Belange zugestanden. Anerkannt wurden in der Rechtsprechung bislang etwa der Schutz der Verbraucher bei Finanzdienstleistungen oder im Glückspielbereich (EuGH, Urt. v. 10.5.1995, C-384/93 – Alpine Investments –, Rn. 42 ff.; Urt. v. 8.9.2009, C-42/07 – Liga Portuguesa de Futebol Profissional und Bwin International –, Rn. 56), die Rechtssicherheit notariell beglaubigter Urkunden (EuGH, Urt. v. 9.3.2017, C-342/15 – Piringer –, Rn. 59) oder der Schutz von Arbeitnehmern gegen ein etwaiges Sozialdumping (EuGH, Urt. v. 18.12.2007, C-341/05 – Laval –, Rn. 103). Dagegen sind Maßnahmen, die darauf abzielen, negative Auswirkungen auf einen Wirtschaftszweig und damit auf die Wirtschaft eines Landes zu verhindern, als bloße Ziele wirtschaftlicher Art keine zwingenden Gründe des Gemeinwohls (EuGH, Urt. v. 5.6.1997, C-398/95 – SETTG –, Rn. 23).
2. Verhältnismäßigkeit
563
Eine die Dienstleistungsfreiheit beschränkende Maßnahme muss zudem geeignet sein, die Verwirklichung des mit ihr angestrebten Ziels zu gewährleisten und darf nicht über das zur Erreichung dieses Ziels Erforderliche hinausgehen (EuGH, Urt. v. 9.3.2017, C-342/15 – Piringer –, Rn. 53). Die Verhältnismäßigkeitsprüfung bildet z.B. im Bereich der Glückspielmonopole regelmäßig den Schwerpunkt der rechtlichen Beurteilung (vgl. u.a. EuGH, Urt. v. 8.9.2009, C-42/07 – Liga Portuguesa de Futebol Profissional und Bwin International –, Rn. 55 ff.; Urt. v. 8.9.2010, C-316/07 – Stoß –, Rn. 69 ff.).
564
Die Geeignetheit einer Maßnahme ist auch im Bereich der Dienstleistungsfreiheit nur gegeben, wenn sie tatsächlich dem Anliegen gerecht wird, das angestrebte Ziel in kohärenter und systematischer Weise zu erreichen. Das Erfordernis einer kohärenten Verfolgung des angestrebten Ziels war etwa in der Rechtssache Josemans problematisch,