Die Erfindung der Rassen. Guido Barbujani
2000. Das ist etwas über den Daumen gepeilt, doch wenn ich mich geirrt habe, dann nur um ein Weniges.
Heute versuchen wir Genetiker, uns in diesem Überfluss von Informationen zu orientieren, doch dieser ist auch ein Labyrinth, in dem wir hin- und hergerissen sind zwischen dem erregenden Gefühl, uns in einer Ausnahmesituation zu befinden (wegen der neuen Fragen, auf die wir versuchen können, Antworten zu geben), und einem Gefühl der Übersättigung (weil wir nicht die Zeit haben, alles Neue zu verdauen). Es ist noch zu früh, eine Bilanz zu ziehen. Ich würde aber sagen, dass einerseits Watsons Voraussagen sich nicht bewahrheitet haben: Heute kennen wir zwar seine gesamte DNA (ja, Watsons Genom, das 2008 sequenziert worden ist), doch wir sind nicht in der Lage, daraus auf sein Gewicht und seine Größe zu schließen, ganz zu schweigen von viel komplizierteren Dingen wie seinem Blutdruck, seinem Infarktrisiko oder – was das Komplizierteste ist – seine Intelligenz (für die es im Übrigen keine befriedigende Definition gibt).
Aber ich möchte andererseits auch nicht zu pessimistisch erscheinen. Genome lesen zu können, erst eines und dann viele weitere, ist und bleibt eine unverzichtbare Methode, um viele grundlegende Fragen der Biologie beantworten zu können. Zweifellos haben wir die Schwierigkeiten unterschätzt, und der eine oder die andere hat sich vorgemacht, die Interpretation der Daten könne leicht sein; doch jetzt wissen wir wenigstens, dass Genome allein nicht genügen und dass wir ordentlich nachdenken müssen, um etwas zu verstehen. Wir sind auf dem rechten Weg, aber wir haben noch nicht einmal die Hälfte der Strecke hinter uns.
Im Augenblick also verfügen wir über eine gigantische Fotografie – vielleicht wäre Mosaik die richtige Metapher – der genetischen Differenzen, die jeden von uns gegenüber seinen Mitmenschen zu einem anderen machen. Auch wenn es noch nicht die spektakulären Fortschritte in der Diagnose und der Verhütung von Krankheiten gibt, die sich manch einer erhofft hat, können wir viele andere Dinge mit einer Genauigkeit untersuchen, die vor zwölf Jahren noch unvorstellbar war: wie die Körperzellen funktionieren, wie sehr wir uns genetisch voneinander unterscheiden und durch welche Ereignisse diese Differenzen sich akkumuliert haben.
Vor Kurzem kam die Nachricht, dass man im Leipziger Max-Planck-Institut die DNA von Neandertalern in Nervenstammzellen einpflanzt, um herauszufinden, inwiefern die Entwicklung und das Funktionieren des Neandertaler-Gehirns von dem unseren abwich (The Guardian, 11.5.2018). Für jemanden, der sich mit der Evolution beschäftigt, war das Manna vom Himmel und für einen, der Bücher über die menschliche Diversität schreibt, eine eindeutige Aufforderung, up to date zu bleiben.
Das heißt, mit zwölf Jahren Abstand haben sich mehrere Teile dieses Buchs als veraltet erwiesen oder mussten entstaubt werden. Anfangs war ich etwas besorgt; nicht nur wegen der enormen Menge von Material, aus dem es auszuwählen galt und das sich oft nur schwer darstellen lässt, weil es technisch kompliziert ist. Vor allem aber war mir nicht klar, wie weit sich die Grundstruktur des Buchs erhalten ließe, die mir aus irgendeinem Grunde noch immer gut gefiel. Doch je weiter ich vorankam, desto deutlicher wurde mir, dass all diese Fortschritte nichts Wesentliches verändert hatten.
Im Großen und Ganzen können wir nur mit größerer Präzision vieles bestätigen, das wir bereits verstanden hatten. Es sind noch wichtige neue und zuweilen verblüffende Einzelheiten aufgetaucht (wer hätte zum Beispiel gedacht, dass die Europäer bis vor 7000 Jahren dunkelhäutig waren? Davon ist auf Seite 161 die Rede), und diese Einzelheiten haben sich in das Bild eingefügt, das in seinen Grundlinien jedoch dasselbe geblieben ist. Um es kurzzumachen: Es ist immer offensichtlicher geworden, dass der Begriff »Rasse« unnütz und schädlich ist, wenn wir die biologischen Grundlagen unserer Unterschiede verstehen wollen, denn die Menschheit besteht nicht aus biologisch unterschiedlichen Gruppen, wie wir sie bei anderen Arten als Rassen bezeichnen.
Erst als wir mit den unsinnigen Versuchen von Klassifikation nach Rassen aufgehört haben, konnten wir unsere Forschung auf das konzentrieren, was wirklich zählt – die Unterschiede zwischen Individuen und Populationen. Dabei setzen Letztere sich aus vielen Menschen mit unterschiedlicher DNA zusammen, die von immer wieder anderen Vorfahren auf uns gekommen ist.
Heute können wir in der DNA die Spuren der Wanderungen und des Austauschs nachverfolgen, die unser Genom im Laufe der Jahrtausende immer wieder neu gemischt haben und ihm das bunte Harlekinkostüm verliehen haben, das wir heute vor Augen haben. Ich musste keine der Kernaussagen des Buches ändern, wenngleich ich gemerkt habe, dass ich bei bestimmten Themen allzu sehr vereinfacht hatte (ich habe jetzt versucht, Abhilfe zu schaffen). Im Übrigen konnten wir vor zwölf Jahren vielfach nur Vermutungen anstellen, während wir heute präzise Nachweise führen können (was zu tun ich mich bemüht habe).
Doch als die erste Fassung dieses Buchs erschien, hoffte ich noch in frommer Einfalt, dass die Idee der Rasse in den kommenden Jahren in der politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung immer unwichtiger würde. Ich behaupte nicht, dass ich rationale Gründe dafür hatte, doch ich hielt es für selbstverständlich. Ich habe mich geirrt, und heute muss ich mich fragen, warum, was der Grund für das ist, woran mich immer wieder mal jemand mit skeptischem Grinsen erinnert: Wieso gibt es eigentlich einen so großen Unterschied zwischen dem, was du über Rasse sagst, und dem, was die Leute glauben?
Mir fällt dazu eine ganze Reihe an Antworten ein, was vielleicht bedeutet, dass ich noch keine wirklich gute gefunden habe. Zum Teil ist das ein altes Problem: Wenn die Dinge komplizierter sind, als wir sie uns vorstellen, und das sind sie häufig, ist es nicht einfach, die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung anzuerkennen. Das ist eine Erfahrungstatsache für einen Genetiker ebenso sehr wie für jemanden, der vor Wunderdiäten oder Schreckensmythen über Impfungen zu warnen versucht. Es braucht Zeit: Althergebrachte Gemeinplätze zu ändern geht weder einfach noch schnell. Im 17. Jahrhundert war es nicht leicht, die Vorstellung durchzusetzen, dass die Erde sich um die Sonne dreht. »Ich war den ganzen Tag am selben Ort; heute Morgen war die Sonne dort und jetzt ist sie hier, also hat sie sich bewegt«, schien dem gesunden Menschenverstand zu entsprechen. »Sie hat schwarze Haut, ich weiße, also gibt es Rassen«, zeugt ebenso von gesundem Menschenverstand und ist ebenso falsch. Und deshalb brauchen wir eine Weile, bis wir die Tatsache verdaut haben, dass unsere biologischen Unterschiede nur Übergänge auf einer Palette sind, deren Farben unwahrnehmbar miteinander verschwimmen.
Aber da ist noch etwas anderes. Viele Experten haben den Eindruck, dass die politische und gesellschaftliche Diskussion dahin tendiert, ihre ganz eigenen Wege zu gehen, wobei die Realität nur bis zu einem bestimmten Punkt zählt. Fake News, absichtlich in die Welt gesetzte Lügen, mit denen Gegner in Schwierigkeiten gebracht werden sollen oder die als Vorwand für brutale Aktionen benutzt werden, sind nur die Spitze des Eisbergs. So ist es schon oft gewesen. Der europäische Rassismus hat eine jahrhundertealte windungsreiche Geschichte, doch er erreicht seinen Höhepunkt in der Zeit zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg. Schon 1924 prangert Adolf Hitler die »Rassenschande« an, die die Stationierung von »Negerhorden« im Rheinland durch die Franzosen nach sich gezogen habe (gemeint waren die berühmten »Rheinlandbastarde«) und fordert »Lebensraum« in Osteuropa auf Kosten der für ihn biologisch minderwertigen Slawen. Im Juli 1933 trat das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« in Kraft, und im September 1935 die Nürnberger Rassegesetze, die die »Reinheit des deutschen Bluts« schützen sollten. 1938 wurden auch in Italien unter dem Slogan »Es ist Zeit, dass die Italiener sich offen als Rassisten bekennen« Gesetze erlassen, die die sogenannten italienischen Bürger jüdischer Rasse ihrer bürgerlichen Rechte beraubten, und mit ihnen zehn Millionen Libyer, Somalier, Eritreer und Abessinier, die unter italienischer Kolonialherrschaft standen. In beiden Fällen war es nicht leicht zu definieren, wer nun genau Jude war und wer nicht, und so wurden, um die politischen Entscheidungen mit allen verfügbaren Argumenten zu unterstützen, die berühmtesten Wissenschaftler der Zeit aktiviert: Anthropologen und Anatomen, Genetiker und Psychologen. Anscheinend fürchteten die Regierungen, dass ohne eine überzeugende wissenschaftliche Rechtfertigung die Menschen in Italien oder Deutschland sogar in den 30er Jahren, der Zeit des Aufstiegs und Triumphs des Faschismus, über die neuen Rassendiskriminierungen die Nase rümpfen könnten. Heute dagegen ist der rassistische Diskurs völlig losgelöst von allem, was sich Wissenschaft nennt. Die Politik der Diskriminierung wird mit Parolen (»Ausländer raus«, »Italiener zuerst/Americans first«, »Bevölkerungsaustausch«, »Umvolkung«, »Herren im eigenen Haus«)