Die Erfindung der Rassen. Guido Barbujani

Die Erfindung der Rassen - Guido Barbujani


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Skandal empfunden.

      Es ist ein alter Gemeinplatz, dass Wissenschaftler sich nicht gern mit dem unmittelbar Lebenswichtigen befassen, sondern sich lieber in ihren schönen Laboratorien mit langwierigen Forschungen beschäftigen. Vielleicht stimmt das auch, doch dann haben wir es in unserem Fall mit einer Ausnahme zu tun. Mit den biologischen Grundlagen der Diversität* der Menschen oder, wie man einmal zu sagen pflegte und heute wieder zu sagen beginnt, mit der Natur und der Existenz menschlicher Rassen, haben sich, oftmals sogar leidenschaftlich, die größten Geister der Biologie befasst, von Linné und Darwin bis hin zu vielen Zeitgenossen (die leider selten das Niveau ihrer Vorgänger erreichen). Das Konzept der Rasse* wurde das gesamte 18. und 19. Jahrhundert hindurch diskutiert, bis es im 20. Jahrhundert dann zu dramatischen und schwerwiegenden Konsequenzen führte. Aus naheliegenden Gründen pausierte die Diskussion in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, allerdings nicht überall: Man denke nur an die Bürgerrechtskämpfe in den Vereinigten Staaten während der fünfziger und sechziger Jahre. Dann, gegen Ende des 20. Jahrhunderts, kommt der Begriff »Rasse« wieder in Mode. Genetische und anthropologische Studien werden dazu veröffentlicht, und die Wissenschaft beginnt sich über die Bedeutung des Rassenkonzepts zu streiten. Einerseits gelingt es keiner dieser Untersuchungen zu beweisen, dass es in unserer Spezies* deutlich unterscheidbare Rassen gibt wie etwa bei Hunden und Pferden (was, wie wir sehen werden, keine guten Beispiele sind) oder bei Schimpansen (das passt schon besser). Dass unsere Identität, wie immer wir sie definieren mögen, etwas mit unseren Genen* zu tun hat, hat noch niemand nachweisen können. Andererseits gehört das Wort »Rasse« zur Sprache (und zum Denken) vieler Menschen, und wenn dies auch nicht heißt, dass der Begriff sinnvoll ist, so ist er doch einfach verständlich, und das macht es schwierig, ihn durch andere zu ersetzen, die die Vielfalt der Menschheit besser und richtiger beschreiben.

      In Wirklichkeit reicht die wissenschaftliche Diskussion über die Rasse weit über die Biologie hinaus und beschäftigt die Sozialpolitik sowie die Politik überhaupt. 2017 forderte Patrizia Prestipino, Mitglied der Führung des Partito Democratico, der sozialdemokratischen Regierungspartei in Italien, Maßnahmen für die Verteidigung der »italienischen« Rasse; im Januar 2018 fand diese Forderung ihr verstärktes Echo in den Worten des Mitte-links-Kandidaten für die Präsidentschaft der Region Lombardei, Attilio Fontana, der die von den vielen Immigranten und ihrer exzessiven Fertilität* bedrohte Bevölkerung von der italienischen auf die weiße Rasse erweiterte.

      In Interviews mit der Presse erklären namhafte US-Genetiker, gleich ob Spezialisten oder nicht, dass es nötig sei, die Rasse im Auge zu behalten, damit kein Geld für nutzlose Medikamente vergeudet wird oder für Schulprojekte, die unsinnige Hilfen für diejenigen anbieten, die durch ihre Gene dazu verdammt sind, es eh nicht zu schaffen. Sie führen den Alkoholismus und die Kreislauferkrankungen der Ureinwohner in den großen Städten Australiens und Nordamerikas auf Erbfaktoren zurück und machen damit ein soziales Problem zu einem medizinischen.

      Das Buch The Bell Curve, in dem eins zu eins die Ideen von Cesare Lombroso, dem berühmten Kriminologen aus dem 19. Jahrhundert, nachgebetet werden und das zu dem Ergebnis kommt, dass die technologischen Innovationen auf der Welt stets das Verdienst der Weißen mit ihrer überlegenen Intelligenz sind und gewesen sind, war ein Bestseller in der halben Welt und hat enthusiastische Kommentare auf der Website von Amazon bekommen. Im März 2005 ist an prominenter Stelle in der New York Times ein Artikel von Armand Marie Leroi (ein Experte für Nematoden, also Fadenwürmer, von dem keine Forschungen zum Menschen bekannt sind) zum Thema »Rasse« erschienen. Ohne irgendwelche Daten beizubringen behauptet er, dass ja für jeden evident sei, dass es Menschenrassen gibt, dass aber einige Wissenschaftler sich aus politischen Gründen weigerten, dies zuzugeben, und dass wir nur Vorteile davon hätten, wenn wir unsere Rassenunterschiede zugäben: medizinische, soziale und ästhetische (jawohl, ästhetische).

      Und weiter: Nicholas Wade, lange Zeit verantwortlich für die Wissenschaftsseiten der New York Times, ist der Ansicht (was von interessierter Seite in Abrede gestellt wird), die Genetiker hätten bewiesen, dass die Unterschiede in der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung unter den Völkern der Erde auf ihre unterschiedlichen Gene zurückgehen. Es müsste doch etwas in den Genen geben – etwas, das genauer zu benennen Wade sich sehr wohl hütet, weil er es so genau auch nicht weiß –, das Afrikaner dazu bringt, Stammesverhalten an den Tag zu legen, Juden dazu, glänzend mit dem Kapitalismus zurechtzukommen, und die Europäer dazu, das Recht zu achten, oder es die Himalayabewohner schaffen lässt, in großen Höhen bei geringem Sauerstoffgehalt der Luft ihre Lager aufzuschlagen.

      Bei all diesen Beispielen handelt es sich im besten Falle um unbewiesene Hypothesen, doch zumeist um ausgemachten Blödsinn, der gleichwohl als unbestreitbares Faktum dargestellt und verbreitet wird. Es sind gerade mal gut 65 Jahre vergangen, seit die Schwarzen in Montgomery in Alabama am ersten Dezember 1955 beschlossen, die Autobusse zu boykottieren, weil sie sich im Bus nicht dorthin setzen durften, wo sie wollten, und etwa dreißig Jahre seit dem Fall des südafrikanischen Apartheidsystems. Es scheint, als seien seitdem Jahrhunderte vergangen. Bei uns in Italien allerdings haben, um nur ein Beispiel zu nennen, Parlamentarier der Lega Nord 2003 vorgeschlagen, getrennte Eisenbahnwagen für Schwarze und Weiße auf der Strecke von Verona zum Brenner vorzusehen.

      Man könnte den Eindruck haben, dass das Durcheinander von neuen Ängsten, alten Gemeinplätzen und schwerverständlichen wissenschaftlichen Daten uns nicht daran hindert, munter über die Natur, die Ursachen und die Folgen der Verschiedenheit unter den Menschen zu diskutieren. Doch so ist es eigentlich nicht. Natürlich wäre es naiv zu glauben, dass tief verwurzelte Phänomene wie Fremdenhass und Rassismus mit einem Schlag verschwänden, wenn wir nur besser über unsere Unterschiede untereinander und unter unseresgleichen nachdächten.

      Doch wenigstens zwei wichtige Fragen können und müssen in streng wissenschaftlicher Weise gestellt werden, wobei (vorübergehend) ihre politischen Implikationen beiseitegelassen werden können. Erstens glauben, wie gesagt, manche, dass unsere Spezies ein Mosaik von biologisch gut unterscheidbaren Gruppen ist, deren ethnische Identität uralt ist und in unseren Genen wurzelt. Und zweitens glauben sie, dass aus diesen biologischen und letztlich rassischen Unterschieden notwendig unterschiedliche Lebensstile und verschiedene Niveaus von Intelligenz und Moral resultieren. Anders gesagt: Es gibt klare Grenzen zwischen Menschengruppen, und die sowohl biologischen als auch kulturellen Grenzen, durch die unser im Wesentlichen unveränderliches Aussehen und Verhalten bestimmt ist, sind bereits in unserer DNA eingeschrieben. Es bleibt uns demnach nichts anderes übrig, als entsprechend zu handeln und die Verteidigung unserer Grenzen zu verstärken. Das sind alte, sogar uralte Vorstellungen, doch sie haben in den letzten Jahren eine erstaunliche Lebendigkeit bewiesen.

      In diesem Buch werde ich dagegen festhalten, dass, soviel wir wissen, der Begriff Rasse für keine in der DNA unserer Spezies erkennbare biologische Realität steht und dass es deshalb auch nichts Angeborenes und Unveränderbares in den ethnischen oder kulturellen Identitäten gibt, die wir heute kennen. Dahingehend sind die Auffassungen der Wissenschaft ganz klar.

      Rassen haben wir erfunden und sie jahrhundertelang für gegeben erachtet, doch inzwischen wissen wir genug, um sie abzuschaffen. Heute wissen wir, dass wir »alle verwandt und doch verschieden« sind, wie eine gelungene Parole des französischen Genetikers André Langaney lautet, und es bedarf keiner weiteren Untersuchungen mehr, um uns davon zu überzeugen. Den Fakt, dass wir alle (ausgenommen zum Teil eineiige Zwillinge) genetisch verschieden sind, bezweifelt, glaube ich, niemand: Dafür müssen wir nur um uns blicken.

      Über das »alle miteinander verwandt« müssen wir allerdings noch einmal nachdenken. Wir sind heute siebeneinhalb Milliarden Menschen auf der Erde, doch bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts waren wir erst weniger als eine Milliarde, und vor 2000 Jahren mehr oder weniger 150 Millionen. Und bekanntlich hat jede und jeder von uns zwei Eltern, vier Großeltern und acht Urgroßeltern. Nur selten lernt jemand seine Urureltern kennen, doch wir wissen, dass wir sechzehn davon hatten, und so geht es weiter zurück, indem wir jede Generation mit zwei multiplizieren. Das bedeutet, dass jeder von uns vor zehn Generationen – sagen wir, bei der Geburt von Mozart – über tausend (genau: 1024) Vorfahren hatte, von denen wiederum 250 Jahre früher, zur Zeit der Entdeckungen von Kolumbus, jeder tausend Vorfahren hatte. Jede und jeder von uns stammt von einer Million Vorfahren ab, die zu der Zeit von Kolumbus gelebt haben, von einer Million


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