Die Erfindung der Rassen. Guido Barbujani
Aber wie soll das möglich sein? Tatsächlich ist das nicht wirklich möglich: So viele Menschen hat es auf der Erde nie gegeben. In Wirklichkeit handelt es sich um eine abstrakte Überlegung: Das alles sind unsere virtuellen Vorfahren und nicht etwa Menschen, mit denen wir nichts zu tun haben. Ehen zwischen Blutsverwandten reduzieren die Zahl der Vorfahren; wenn Cousins und Cousinen heiraten, haben ihre Kinder nur sechs statt acht Urgroßeltern. Also: Damit unsere sich im Endlosen verlierende Genealogie in den Grenzen der historischen Weltbevölkerung bleibt, müssen wir annehmen, dass viele der Verbindungen, aus denen wir über die Jahrtausende hervorgegangen sind, solche zwischen Verwandten waren, die, meist ohne dies zu wissen, von gemeinsamen Vorfahren abstammten. Doch die Tatsache, dass jede und jeder von uns theoretisch eine unüberschaubare Anzahl von Vorfahren hat, allein im letzten Jahrtausend, bedeutet, dass viele meiner Vorfahren auch die Vorfahren derer sind, die dieses Buch gerade lesen. Anders kann man das nicht sehen. Douglas Rohde vom Massachusetts Institute of Technology hat ausgerechnet, dass im Durchschnitt zwei von uns allen einen gemeinsamen Vorfahren haben müssen, der vor wenig mehr als 3000 Jahren gelebt hat. »Im Durchschnitt« bedeutet, dass manche von uns diese gemeinsamen Vorfahren vor längerer Zeit gehabt haben mögen, andere wiederum vor kürzerer Zeit. Doch wir können uns darauf verlassen, dass jede uns unbekannte Person unsere mehr oder weniger nahe Verwandte oder unser Verwandter ist. Dafür müssen wir nur ein wenig in der Zeit zurückgehen.
Wenn wir so in der Zeit zurückgehen, finden wir den fossilen und genetischen Nachweis dafür, dass die große Menschheitsfamilie von einer kleinen, vielleicht ein paar Tausende Individuen umfassenden Gruppe abstammt, die vor 100 000 Jahren in Afrika lebte. Viele Einzelheiten ihrer Geschichte sind uns unbekannt, doch die 100 000 Jahre bedeuten, dass wir eine ziemlich junge Art sind: Leben auf der Erde gibt es seit fast vier Milliarden Jahren. Und wir sind sehr mobil: In diesen 100 000 Jahren haben wir von Afrika aus den gesamten Planeten besiedelt, und dann haben wir uns fortwährend von hier nach dort bewegt. Wir sind auch eine fruchtbare Art, denn wir sind im selben Zeitraum auf die heutigen über sieben Milliarden Angehörige gewachsen.
Und darüber hinaus sind wir eine sehr hybride* Spezies, deren Populationen*, auch wenn sie über lange Zeiträume isoliert waren, sich doch begegnet sind und sich immer wieder vermischt haben, in einem Prozess, der auch heute noch nicht abgeschlossen ist. Um nur ein Beispiel zu nennen: In Sizilien gab es, bevor die Griechen kamen, Sikuler und Sikaner. Ihnen folgten die Römer, die Byzantiner, die Araber, die Normannen, die Anjou, die Aragonesen, die Piemontesen und so weiter. Alle haben ihr Erbe hinterlassen, und als die Sizilianer nach Amerika auswanderten, haben sie das vielfältige Erbe ihrer Vorfahren mitgenommen, das sich nun langsam aber sicher mit dem von Vorfahren aus Irland, Guinea oder Mexiko vermischt …
Die menschliche Biodiversität*, die Summe der von uns allen – den Angehörigen der menschlichen Spezies – ererbten Unterschiede, ist vor allem die Folge dieser Phänomene: unserer Mobilität, unserer Fruchtbarkeit und einer ausgeprägten Tendenz, uns miteinander zu vermischen. Bei einer so vermischten und vereinheitlichten Spezies müssen wir uns nicht wundern, wenn wir heute überall, wenn auch mit unterschiedlicher Häufigkeit, dieselben Genvarianten* vorfinden: von der Wiege der Menschheit in Afrika bis nach Sibirien, von Ozeanien bis Europa. Wir wissen, dass wir, wenn wir weit genug in unserer Genealogie zurückgehen, herausfinden werden, dass unsere Ahnen alle aus Afrika stammen; wir wissen auch, dass unsere Gene im Wesentlichen bestimmen, wie wir aussehen und wie intelligent wir sind. Wir wissen aber keineswegs, ob und in welchem Maß die kulturellen Unterschiede zwischen Populationen aus genetischen Unterschieden resultieren könnten, die in Wahrheit meist äußerst gering sind, wie zum Beispiel die zwischen Serben und Kroaten, Tutsi und Hutu, Flamen und Wallonen, Katalanen und Kastiliern.
Wie wir dies erklären und was es bedeutet, möchten wir in den folgenden Kapiteln erläutern. Wir werden eine Geschichte erzählen, die ihre epischen und zuweilen fabelhaften Aspekte hat, denn sie ist im Grunde die Geschichte davon, wie die Menschheit es geschafft hat, indem sie in der Zeit zurückgegangen ist, ihre entferntesten Vorfahren ausfindig zu machen und ihr Schicksal über tausende Generationen hinweg zu rekonstruieren. In dieser Geschichte entgeht die Heldin, die Menschheit, wie in einem spannenden Abenteuerfilm nur um Haaresbreite der Katastrophe, aber entgeht ihr am Ende dennoch dank ihrer Zähigkeit, bislang jedenfalls, so wahr es uns gibt.
Wir können diese Geschichte rekonstruieren, weil sie eine Spur in unseren Zellen* hinterlassen hat. Bereits lange vor der Erfindung der Schrift, vor den ältesten archäologischen Zeugnissen, hat unsere DNA die Ereignisse aufgezeichnet, mit denen wir uns entwickelt haben. Genauso wie bei allen anderen Tieren und den Pflanzen, die auf der Erde leben. Die allmähliche Unterscheidung von den Menschenaffen, die ersten Wanderungen* der Menschheit, die demographischen Krisen, die Ausbreitung über fünf Kontinente und deren Besiedlung haben Zeichen hinterlassen, die Genetiker und Anthropologen zu entziffern gelernt haben. Darüber werden wir ausführlich berichten.
Im Unterschied zu den meisten Abenteuerfilmen ist allerdings nicht ausgemacht, ob diese Geschichte ein gutes Ende hat. Dazu kann man unterschiedlicher Meinung sein; jedenfalls gibt es keinen Grund, sich darüber keine Sorgen zu machen, angesichts der Entwicklung des Klimas und der Demographie auf unserem Planeten. Schließlich haben Millionen Arten die Erde einst besiedelt, die längst ausgestorben sind. Und was ist an uns so besonders, dass wir behaupten könnten, bei uns sei das anders? Andererseits jedoch steht nirgends geschrieben, was mit den Genen und der Kultur geschieht, die unsere Vorfahren uns hinterlassen haben; dies hängt also auch von uns selbst ab. Kurz, die Partie ist noch nicht zu Ende gespielt. Und so ist es der Mühe wert, uns mit der Geschichte unserer Anfänge, unserer Verschiedenheit und unserer Entwicklung zu befassen: Denn es ist besser, unsere Zukunft mit einigen Kenntnissen über unsere Vergangenheit anzugehen, Kenntnissen davon, wie wir geworden sind, was wir sind.
Die Website https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_andauernden_Kriege_und_Konflikte zählt die aktuellen bewaffneten Konflikte in der Welt auf und klassifiziert sie (auf makabre Weise) nach der Zahl der Opfer.
Die UNO bietet einen guten Online-Kurs zu vielen aktuellen Themen an, United Nations Cyberschoolbus (http://cyberschoolbus.un.org/); Zwei Lektionen darin handeln von ethnischer und rassistischer Diskriminierung.
Über den Alkoholmissbrauch bei Ureinwohnern in den australischen Städten finden sich viele Informationen unter http://www.healthinfonet.ecu.edu.au/frames.htm.
Offenbar ist: C. Murray, R.J. Herrnsteins Bestseller, The Bell Curve: Intelligence and Class Structure in American Life (1994) nie ins Deutsche übersetzt worden, hat allerdings in Deutschland Nachahmer gefunden, wie wir im 6. Kapitel sehen werden.
Nicholas Wade hat parallel zur Veröffentlichung seines Buchs A Troublesome Inheritance: Genes, Race and Human History, New York 2014, einen Artikel für das Time Magazine verfasst: What Science Says About Race and Genetics (9. Mai 2014), der sich auf dieser Website findet: http://time.com/author/nicholas-wade/.
Eine Antwort von 139 Genetikern, den Autor dieses Buchs inbegriffen, ist in der New York Times am 10. August 2014 erschienen (http://cehg.stanford.edu/letter-from-population-geneticists/). Dort heißt es: »Wade vermischt eine unvollständige und ungenaue Beschreibung unserer Forschungen mit der Behauptung, die natürliche Auslese habe möglicherweise zwischen den Bevölkerungen der Welt zu Unterschieden des Intelligenzquotienten, der politischen Institutionen und der wirtschaftlichen Entwicklung geführt. Wir weisen die Behauptung von Wade zurück, dass unsere Forschungsergebnisse seine Ideen in irgendeiner Weise stützen. Das ist nicht wahr.«
Der Artikel von Armand Marie Leroi ist in der New York Times am 14. März 2005 erschienen: http://raceandgenomics.ssrc.org/Leroi/.
Über die Ausstellung Tous parents, tous différents kann man nähere Angaben finden unter http://anthro.unige.ch/tptd/fr/.