Die Utopie des Sozialismus. Klaus Dörre
prominente Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart dar.
II Begriffe: Radikaler Humanismus, Postwachstum, Neosozialismus?
Systemische Mängel und Zusammenbrüche real gewordener Sozialismen vor Augen, erscheinen alternative Bezeichnungen für bessere Gesellschaften manchen heute attraktiver als das belastete S-Wort. Für den Journalisten und einflussreichen Kapitalismuskritiker Paul Mason ist das der Grund, einem radikalen Humanismus das Wort zu reden.1 Doch Mason ergeht es wie manch anderen, die ähnlich vorgehen. Seine Argumentation wirkt gelegentlich so, als sollten sozialistische Zielsetzungen in einer begrifflichen Hülle verfolgt werden, die sie vor einer Kontamination durch geschichtliche Belastungen bewahrt. Das klingt an, wenn der radikale Humanismus mit einem kritischen Rückgriff auf Marx begründet wird. Zwar benennt Mason »wesentliche Konstruktionsfehler« der Marx’schen Theorie, stellt aber sogleich klar, »dass der Marxismus, wenn er von seinen autoritären Impulsen gereinigt wird, weiterhin eine wichtige Grundlage für eine radikale Strategie des Widerstands sein kann«.2 Das klingt ein wenig nach Mogelpackung, denn Marx sah die Alternative zum Kapitalismus zweifelsohne in einer sozialistisch-kommunistischen Gesellschaft. Diese Zielsetzung begriffs-strategisch auszublenden, halte ich für einen Fehler. Denn jede Suche nach einer besseren Gesellschaft muss in Erinnerung behalten, was im »Zeitalter der Extreme«3 im Namen revolutionärer Absichten geschehen ist. Deshalb ergibt es Sinn, die höchst widersprüchliche Geschichte des Sozialismus nicht zu verdrängen, sondern sie zu reflektieren, wenn es um die Bezeichnung für postkapitalistische Gesellschaften geht. Das kann nur gelingen, indem der Sozialismusbegriff, statt ihn voreilig ad acta zu legen, mit neuem Inhalt gefüllt wird.
Neo-Soul und Neosozialismus
So vorzugehen, besitzt noch einen weiteren Vorteil. Zum wiederholten Mal für eine andere Moderne zu plädieren oder es beim vagen Begriff einer demokratischen Postwachstumsgesellschaft zu belassen, bedeutet im Grunde, sich hinsichtlich der Konturen einer nächsten Gesellschaft bedeckt zu halten. Sofern man möglichst wenig Reibungsverluste erzeugen möchte, ist das sicher eine gute Taktik. Die Abgrenzung zu autoritären, produktivistischen Praktiken früherer Staatssozialismen kann so durchaus gelingen.4 Doch sobald die Degrowth-/Postwachstumsperspektive in einem progressiven Sinne konkretisiert wird, landet man in gewisser Weise wieder beim Mason-Problem. Das, was über die Strömungsdifferenzen hinweg als »gemeinsamer Kern«5 der Veränderungen hin zu Postwachstumsgesellschaften präsentiert wird, ist problemlos in eine neosozialistische Agenda zu integrieren. Eine Schwierigkeit bei den Kernforderungen der Degrowth-/Postwachstumsbewegungen wurzelt indes darin, dass unklar bleibt, wie das, was in der postkapitalistischen Gesellschaft verteilt werden soll – etwa die Arbeitszeit mittels Arbeitszeitverkürzung für alle und bei Einkommensverlusten nur für die oberen 10 Prozent –, durch eine effiziente Produktion materiell abgesichert werden soll. Anders gesagt, die Kernforderungen der Degrowth-Bewegungen sind gut, wenn es um das Verteilen geht, doch sie blenden das Produktionsproblem aus. Belässt man es dabei, Postwachstumsgesellschaften mithilfe eines nicht näher spezifizierten bedingungslosen Grundeinkommens bestimmen zu wollen, dem, ebenso unverbindlich, ein wenig Umverteilung und ein bisschen Wirtschaftsdemokratie hinzufügt wird6, kann man diese Schwierigkeit vielleicht verdecken. Sobald die gesellschaftliche Transformation nach Konkretion verlangt, dürfte sich beim Publikum aber rasch Desillusionierung einstellen. Ohne genauere inhaltliche Festlegungen bleibt die Postwachstumsperspektive derart diffus, dass sie für nahezu alles und jedes benutzt werden kann. Eine Abkehr von Wachstumszwängen fordern Linke wie Rechte, Konservative ebenso wie Progressive, ja, selbst Faschisten und Antifaschisten.7 Deshalb ist es wichtig, in der Auseinandersetzung mit dem Expansionszwang und Wachstumsdrang kapitalistischer Gesellschaften genauer zu argumentieren.
Größere Präzision ist insbesondere deshalb angebracht, weil, wie sich zeigen wird, kapitalistische Postwachstumsgesellschaften in gewisser Weise bereits existieren. In den alten industriellen Zentren haben wir es überwiegend mit nur noch schwach wachsenden Ökonomien zu tun. Diesem Phänomen mit Formeln wie der von Wachstumsgesellschaten ohne Wachstum beikommen zu wollen, ist wenig hilfreich. Wer die Abkehr von systemischen Wachstumszwängen einfordert, muss die Wachstumstreiber, aber auch die Mittel und Wege zu ihrer Überwindung so genau wie möglich beschreiben und die Vorschläge zu ihrer Überwindung im Spektrum konkurrierender politischer Philosophien verorten. Die von vielen Wissenschaftler:innen gern behauptete Abkehr von gängigen Links-rechts-Schemata trägt hier wenig zur Klarheit bei.8
›Postwachstumsgesellschaft‹ eignet sich als Bezeichnung für alle zeitgenössischen sozialen Ordnungen, die ohne rasches und permanentes Wirtschaftswachstum auskommen müssen. Mein Vorschlag lautet, den Begriff analytisch und ohne normative Aufladung zu verwenden.9 Geht es jedoch um Weichenstellungen zugunsten einer besseren, weil ökologisch angepassten, egalitär-demokratischen und deshalb nachhaltigen Gesellschaft, spreche ich lieber von und schreibe über ›Sozialismus‹. Für erste Überlegungen hatte ich die Bezeichnung Neosozialismus gewählt. Neosozialismus, so schien mir, funktioniert wie Neo-Soul. Die Grundelemente bleiben gleich, sie wiederholen sich, werden aber anders interpretiert, rekombiniert, variiert, auseinanderdividiert und wieder zusammengesetzt, bis etwas völlig Neues entsteht. Wer würde bestreiten wollen, dass Sault, die Band des Jahres 2020, aufregende Musik macht. Mit Alben wie Rise und Black is hat das Musikkollektiv unbekannter Zusammensetzung den Soundtrack zu den Black-Lives-Matter-Protesten geliefert. Im Internet ist zu lesen, die Gruppe kombiniere Rhythm and Blues, House und Disco auf höchst originelle Weise und forme daraus etwas Innovatives, Aufregendes, Neuartiges. Für mich ist das Neo-Soul – großartige Klänge, noch dazu verbunden mit einer klaren politischen Botschaft.
Die Neoliberalen haben vorgemacht, dass es politischen Philosophien ähnlich ergehen kann wie dem Neo-Soul. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs völlig am Boden, hatte sich der Wirtschaftsliberalismus in neuem Gewand zu Beginn des 21. Jahrhunderts in einigen Teilen der Welt de facto als eine Art Staatsreligion etabliert. Weder die Parteien mitte-rechts noch diejenigen mitte-links stellten die grundlegenden Koordinaten eines ansonsten variantenreichen Paradigmas – Primat der Marktkoordination, angebotsorientierte Wirtschaftspolitik, Freihandel, Privatisierung, Steuersenkungen, Haushaltsdisziplin und Flexibilisierung der Arbeitswelt – grundsätzlich infrage. Der Aufstieg des neuen Marktradikalismus hatte in kleinen Zirkeln begonnen, die sich untereinander durchaus bekämpften. Mit dem Ordoliberalismus, der Wiener Schule eines Friedrich von Hayek oder den sogenannten Chicago-Boys um Milton Friedman sind Netzwerke entstanden, die in der Ökonomik Paradigmen setzten und die Politikberatung dominierten.
Warum sollte dem Sozialismus nicht Vergleichbares gelingen? Ausgerechnet in einem Land, dessen bürgerliche Öffentlichkeit Sozialismus in all seinen Schattierung lange Zeit mit dem Vorhof zur Hölle assoziierte, haben die Democratic Socialists um Bernie Sanders und Alexandria Ocasio-Cortez vorgemacht, wie sich mit dem S-Wort erfolgreich Politik gestalten lässt. Offenbar ist die Praxis diesbezüglich weiter als die Theorie. Gleichwohl, ›Neosozialismus‹ klingt sperrig, für das politische Handgemenge ist der Begriff untauglich.10 Erik Olin Wright nennt ein weiteres Argument, das gegen eine Verbindung von Neo und Sozialismus spricht und eine andere Wortkombination an deren Stelle setzt. In den USA ist es die äußerst populäre Beifügung democratic, die dem S-Wort gerade bei jungen Leuten den Schrecken nimmt.11 In Kontinentaleuropa und Deutschland liegen die Dinge anders. Hier ist die distinktive Kraft eines demokratischen Sozialismus gering. Die Bezeichnung klingt zu sehr nach ausgelaugter Sozialdemokratie, als dass sie zum Attraktionspunkt innovativer Debatten werden könnte. Bob Jessop schlägt deshalb den Begriff ›demokratischer Ökosozialismus‹ als Alternative vor.12 Doch dessen Verwendung beinhaltet ein ähnliches Problem, wie es dem demokratischen Sozialismus innewohnt. In Deutschland erinnert Ökosozialismus an politische Positionen, die von den siegreichen Mehrheitsströmungen in der grünen Partei als Fundamentalismus bekämpft und erfolgreich marginalisiert wurden.
Schon zu Zeiten der Auseinandersetzung zwischen grünen »Fundis« und »Realos« war die ökosozialistische Strömung allerdings plural, und ihr Scheitern bedeutet nicht zwangsläufig, dass tragende Ideen überholt wären. Deshalb werde