Die Utopie des Sozialismus. Klaus Dörre

Die Utopie des Sozialismus - Klaus Dörre


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Sozialismus‹ ist nach meiner Auffassung aber besser geeignet, um zu konkretisieren, worum es in Zukunft geht. Nachhaltigkeit beinhaltet Antworten auf den ökologischen Gesellschaftskonflikt, sie schließt aber auch soziale Zielsetzungen ein und ist von ihrer Begriffsgeschichte13 her betrachtet sowohl global ausgerichtet als auch universalistisch angelegt. Nachhaltiger Sozialismus existiert, wie etwa auf der Leipziger Studierendenvollversammlung, in der Gegenwart nur in den Vorstellungen und Praktiken von Aktiven in sozialen Bewegungen. Eine demokratische und zugleich nachhaltige sozialistische Gesellschaft ist hingegen nirgendwo verwirklicht.

      Vom Sozialismus als Bewegung oder gesellschaftlicher Ordnung muss Sozialismus als Gegenstand wissenschaftlicher Beobachtung unterschieden werden. Für die letztgenannte Bedeutung wird eine Heuristik benötigt, die es erlaubt, einen Gegenstand in ständiger Veränderung mit wissenschaftlichen Methoden zu erfassen und für Forschungszwecke zu operationalisieren.

      Exkurs: democratic marxism, Soziologie und Sozialismus

      Dabei kann eine Methodik helfen, wie sie im angelsächsischen Sprachraum mit den Ideen eines sociological oder democratic marxism verbunden wird.14 Forschende, die mit diesem paradigmatisch angelegten Konzept arbeiten, verstehen sich als »marxian«, nicht als »marxist«. Zu parteioffiziellen Marxismen verhalten sie sich kritisch.15 Die Beifügung democratic signalisiert eine Sensibilisierung für den Eigenwert pluralistisch-demokratischer Institutionen und Prozesse. Das ist kein Zugeständnis an hegemonial-bürgerliches Denken, wie manche Kritiker:innen meinen. Vielmehr entspricht die Aufgeschlossenheit einer emanzipatorischen Praxis, wie sie etwa während des südafrikanischen Anti-Apartheid-Kampfs selbstverständlich war. Aus den Erfahrungen solcher Freiheitsbewegungen heraus gelten plurale parlamentarische Demokratien als unverzichtbare Basis aller Versuche, Alternativen zum Kapitalismus überhaupt zu diskutieren.16 Zum Selbstverständnis eines democratic marxism gehört eine prinzipielle Offenheit für andere – etwa feministische, ökologische oder indigene –Strömungen kapitalismuskritischen Denkens. Das heißt in der Konsequenz: Es gibt nicht den Marxismus, sondern nur eine gewisse Pluralität an Konzeptionen, die sich in unterschiedlicher Weise auf Marx beziehen.17 Diese Pluralität ist im Fragment gebliebenen Werk selbst angelegt. Anregend sind aus der heutigen Perspektive gerade die Brüche und Ungereimtheiten in den theoretischen Arbeiten des Karl Marx und seiner zahlreichen Interpret:innen. Solche Inkohärenzen zu ignorieren hieße deshalb, einem »faulen Marxismus«18 das Wort zu reden.

      Jenseits dogmatischer Erstarrung beinhaltet die Marx’sche Theorie in ihren zahlreichen Weiterentwicklungen und Verästelungen noch immer eine herausfordernde Kapitalismuskritik – »die gründlichste, kompromissloseste, umfassendste jemals vorgebrachte Kritik dieser Art«.19 Sie ist eine Theorie, in deren Namen »große Regionen der Erde umgestaltet« wurden.20 Damit hat sie jedoch zugleich ihre Unschuld verloren. Jede Spielart des Marxismus muss heute selbstreflexiv sein und sich um ein kritisches Verhältnis zu ihrer eigenen Geschichte und der durch sie legitimierten Praxis bemühen. Wer sich der Methodik eines soziologischen Marxismus verpflichtet fühlt, steht deshalb für eine niemals abgeschlossene Reinterpretation klassischer Texte unter Berücksichtigung des zeitgenössischen sozialwissenschaftlichen Wissens. Zum »pragmatischen Realismus«21 so verstandener Theoriebildung gehört es, Begriffe wiederzuentdecken oder Bedeutungen zu reanimieren, die seitens der marxistischen Orthodoxie längst ad acta gelegt waren. Sozialismus ist ein solcher Begriff, den zu reinterpretieren eine wissenschaftliche und damit auch eine soziologische Aufgabe darstellt.

      Eine Methodik, die entsprechend verfährt, muss einigen Anforderungen genügen, die hier kurz genannt seien. Die erste dieser Anforderungen kann als Reinterpretation, Thesenbildung und Prüfung bezeichnet werden. Eine kritische Reinterpretation klassischer Sozialismus-Texte zu betreiben, ist unabdingbar. Dabei gewonnene Thesen müssen aber zumindest ausschnitthaft und exemplarisch einer empirischen Prüfung unterzogen werden, mit deren Hilfe sich theoretische Vorannahmen korrigieren lassen. Daraus folgt für soziologische Erkundungen einer nächsten sozialistischen Gesellschaft, dass sie experimentell und ergebnisoffen angelegt sein müssen. So hat Erik Olin Wright akribisch untersucht, welche Alternativen zur kapitalistischen Produktionsweise sich bereits in bestehenden Gesellschaften herausbilden, ob und unter welchen Umständen sie Bestand haben und auf welche Weise sie tatsächlich zu einem besseren Leben beitragen können. Prozesse des Scheiterns zu dokumentieren, ist in dieser Methodik ebenso angelegt wie eine Wertschätzung von Projekten einer solidarischen Ökonomie oder genossenschaftlicher Selbstorganisation, die sich zuerst in Nischen der kapitalistischen Produktionsweise durchsetzen.22

      Eine zweite Anforderung resultiert aus der Mehrebenenproblematik moderner Gesellschaften. Zu bedenken ist, dass Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse in ausdifferenzierte soziale Felder23 und gesellschaftliche Bewährungsproben24 eingebettet sind, deren eigensinnige Machtkonflikte und Wertigkeitsprüfungen empirisch erforscht werden müssen. Von Kapitalismus als sozialer Formation zu sprechen, bedeutet daher keineswegs, soziale Differenzierung, Vielfalt, Kontingenz, die Schwerkraft von Institutionen und daraus erwachsende Pfadabhängigkeiten in Abrede zu stellen. Im Gegenteil. Statt von einer determinierenden ökonomischen Basis auszugehen, die den gesellschaftlichen Überbau strukturiert, ist es sinnvoll, die kapitalistische Ökonomie und ihre Märkte als tiefgestaffelte soziale Felder25 zu betrachten, die mit zahllosen Variationen eines ökonomischen Habitus korrespondieren, der als verinnerlichtes Äußeres zu rationalem Handeln unter kapitalistischen Bedingungen überhaupt erst befähigt.26 Die methodologische Anforderung, die sich daraus ergibt, lautet: unbedingt das Mehrebenenproblem und die Ausdifferenzierung sozialer Felder beachten und dennoch nach feldübergreifenden Strukturähnlichkeiten suchen, um Aussagen über größere Zusammenhänge und Ereignisketten überhaupt erst zu ermöglichen. Ohne Vorstellungen von gesellschaftlichen Ordnungen, die dabei helfen können, empirische Einzelbefunde zu gewichten und in einen Zusammenhang zu bringen, sind weder Aussagen über die kapitalistische Gegenwart noch über eine sozialistische Zukunft möglich.

      In keinem Fall dürfen gesellschaftliche Dynamiken auf einen einzelnen Kausalmechanismus zurückgeführt werden. Die Eigentumsfrage ist für die Grundlegungen eines ökologischen Sozialismus noch immer zentral, aber neue kollektive Eigentumsformen garantieren für sich genommen noch nicht, dass sich die mit ihnen verbundenen Wirtschaftsweisen tatsächlich als nachhaltig erweisen. Deshalb müssen ökologisch-sozialistische Praktiken ebenso wie neu entstehende gesellschaftliche Institutionen feldspezifisch begründet und evaluiert werden. Wie das politische System einer künftigen sozialistischen Gesellschaft aussieht, kann und darf keinesfalls aus deren ökonomischer Verfasstheit »abgeleitet« werden. Gleiches gilt für Kultur, Lebensweisen, Öffentlichkeit, Subjektivitäten, kurzum für sämtliche gesellschaftliche Sphären jenseits der Ökonomie. Aus dieser Komplexität ergibt sich als zusätzliche Anforderung, die Möglichkeit zu Selbstkorrekturen von Gesellschaftssystemen zu beachten. Der Kapitalismus besitzt die Fähigkeit, sich immer wieder zu häuten, um seine Kernstruktur zu bewahren. Staatssozialistische Gesellschaften haben die dazu erforderlichen Selbststabilisierungsmechanismen nicht im gleichen Maße ausbilden können, doch auch ihre Entwicklung war nicht mit der Geburtsstunde vorgezeichnet. Es gab immer wieder Wegscheiden, an denen eine radikale Selbstkorrektur möglich gewesen wäre, denn auch die staatssozialistischen Ordnungen waren und sind keine monolithischen Blöcke.27 Daraus folgt, dass auch aus dem Scheitern gelernt werden kann. So können beispielsweise die wirtschaftsdemokratischen Überlegungen der Prager Reformer28, die Plattform der bewegungsorientierten Strömung in der italienischen Kommunistischen Partei (PCI)29 oder die Thesen der ökosozialistischen Strömung bei den Grünen der 1980er und frühen 1990er Jahre30 als unabgegoltene Programmatiken betrachtet werden, die noch immer ein großes Anregungspotenzial besitzen, obwohl, vielleicht auch weil ihre Realisierungsversuche gescheitert sind.

      Aus den genannten methodologischen Regeln ergibt sich als eine dritte Anforderung, dass die Verbindung von wissenschaftlicher Analyse und normativ begründeter Gesellschaftskritik unbedingt zu beachten ist. Ein demokratischer Marxismus unterscheidet sich auch methodologisch von sozialtheoretischen Versuchen, die auf eine normative Letztbegründung von Gesellschaftskritik zielen. Kritik des Marx’schen Typus


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