ad Hannah Arendt - Eichmann in Jerusalem. Werner Renz
Aus Sicherheitsgründen hatte das Gericht auf Antrag der Anklagevertretung beschlossen, dass Eichmann in seiner Glaskabine verblieb und nicht im ungeschützten Zeugenstand Platz nahm.
Nur zu Beginn von Eichmanns Einvernahme durch seinen Rechtsbeistand war Arendt nochmals für wenige Tage (20. bis 22. Juni 1961, drei Gerichtssitzungen) nach Jerusalem zurückgekehrt, um »Eichmann on the witness stand zu sehen«.19
Festzustellen ist mithin, dass Arendt, gleich dem Historiker, nicht aber dem genuinen Gerichtsreporter, weitgehend über ein papierenes Wissen von Eichmann und seinem Prozess verfügte, auch wenn anzunehmen ist, dass sie die Fernsehberichterstattung über den Prozess in den USA verfolgte. Unrichtig will es deshalb scheinen, von der »Arendtschen Augenzeugenschaft«20 bzw. von »Augenzeugen-Geschichtsschreibung«21 zu sprechen.
Die drei Sitzungen, in denen Arendt im Juni 1961 Eichmann bei seiner Vernehmung durch seinen Verteidiger »erlebte«, haben schwerlich ausgereicht, sich ein Bild von dem Angeklagten in natura zu machen.22 »Mitangehört« (EJ, S. 100) hat sich Arendt, wie dargelegt, nur rund ein Viertel der Gerichtsverhandlung, »beigewohnt […] der langen Lektion in Sachen menschlicher Verruchtheit« (EJ, S. 300)23 hat sie während des Kreuzverhörs durch Anklagevertretung und Gericht gerade nicht. Zurecht bemerkte deshalb Deborah Lipstadt: »But she was not in the courtroom during the most crucial moments of« Eichmanns »testimony. In fact, she was absent for much of the trial.«24
Diese Feststellung ist freilich kein genereller Einwand gegen Arendt, sondern dient allein der Darlegung der Entstehungsgeschichte ihres Reports. Gleichwohl ist zu bemerken, dass sie sich über die Dauer ihrer Präsenz im Gerichtssaal ausschweigt. Es wäre fraglos ein Gebot der Redlichkeit gewesen, den Unterschied zwischen Prozessbeobachtung vor Ort und dem in New York am Schreibtisch erfolgten Studium und Auswertung der ihr zugegangenen umfangreichen Prozessunterlagen deutlich zu machen. Selbst in ihrem Briefwechsel mit dem umstrittenen Zeugen Fülöp Freudiger lässt Arendt Transparenz vermissen. Das während seiner Aussage von einem Prozessbesucher angefeindete Mitglied des Budapester Judenrats (EJ, S. 160 f.) meinte in einem Brief an Arendt, sie habe ihn im Verhandlungssaal gehört.25 In ihrer Antwort klärte sie das Missverständnis nicht auf.26 Freudiger war drei Wochen nach Arendts Abreise in den Zeugenstand getreten. Arendts Darstellung des Zwischenfalls liest sich freilich so, als ob sie ihn tatsächlich erlebt hätte.
Bereits wenige Tage nach der Prozesseröffnung (11. April 1961) hatte sich Arendt schon ein recht persönliches, von Affekten und Ressentiments nicht freies Bild von den Akteuren in Jerusalem gemacht. Eichmann erschien ihr »wie ein Gespenst«, nicht »einmal unheimlich« und »nur darauf bedacht, die Haltung nicht zu verlieren«.27 Chefankläger Hausner, sein Eröffnungsplädoyer (17./18. April 1961) hatte er noch gar nicht gehalten, war ihr schlicht »ein galizischer Jude, der ohne Punkt und Komma spricht, sich dauernd wiederholt und widerspricht, gelehrt tut, wie ein beflissener Schüler, der zeigen will, was er alles weiß«.28 Gegenüber Jaspers meinte sie despektierlich, Hausner sei »typisch galizischer Jude, sehr unsympathisch, macht dauernd Fehler. Vermutlich einer von denen, die keine Sprache können«.29 An ihren Mann Heinrich Blücher schrieb sie gar: »Übrigens der Prosecutor wird immer ekelhafter«.30 Hausner, 1915 in Lemberg geboren, war 1927 nach Palästina ausgewandert.31 Schwerlich anzunehmen, dass sein Hebräisch schlechter war als das der drei Richter, die 1933 ins Exil nach Palästina gegangen und älter als Hausner waren.
Mit welchen Vorurteilen Arendt im Gerichtssaal saß, macht auch folgende, äußerst befremdliche Bemerkung deutlich: »Mein erster Eindruck: Oben die Richter, bestes deutsches Judentum. Darunter die Staatsanwaltschaft, Galizianer, aber immerhin noch Europäer.«32 Hausners Kollegen Gabriel Bach (*1927) und Yaakov Bar-Or (1916–2008) waren in Halberstadt und Frankfurt am Main geboren.
Nicht zu übersehen und nicht zu tabuisieren ist mithin, dass »Arendts Bemerkungen über Israel und die Israelis« in ihrer Korrespondenz »nachgerade rassistische Untertöne«33 aufweisen. Eichmanns Verteidiger Servatius zeichnete sie als »ein[en] ölige[n], geschickte[n] und sicher durch und durch korrupte[n] Herr[n], aber erheblich gescheiter als der Staatsanwalt«.34
Wie wenig Geduld sie für den Verlauf des Strafverfahrens aufbrachte, wie wenig sie sich wirklich auf die Rolle einer Prozessbeobachterin einließ, belegen ihre Einlassungen nach gerademal fünf Gerichtssitzungen. An Blücher schrieb sie, sie sitze »vorläufig […] von morgens bis abends im Gerichtssaal, hoffe aber doch, daß dies in der nächsten Woche nicht mehr nötig sein«35 werde. Wenige Tage später musste sich die erstaunlich unwillige Gerichtsreporterin in ihrer fraglos ungewohnten Rolle eingestehen, dass das »Gespenst in der Glaskiste« ihr immer noch unbegreiflich sei: »Das Ganze stinknormal und unbeschreiblich minderwertig und widerwärtig. Verstehen tue ich es noch nicht, aber mir ist, als ob der Groschen irgendwann einmal fallen wird, nämlich bei mir.«36
Arendts Erkenntnisverlangen stand mit ihrem Wunsch, möglichst bald Jerusalem verlassen zu können, in Widerstreit, meinte sie doch, sie wolle »so schnell wie möglich weg, aber auch nicht so, daß ich etwas Wesentliches versäume«.37 Vergegenwärtigt man sich die Tatsache, dass Arendt die Überlebenden der Vernichtungslager Chełmno, Sobibór, Treblinka, Auschwitz und Majdanek (vom Todeslager Bełżec wohnte kein Überlebender in Israel)38 und viele andere überaus wichtige Zeugen nicht gehört, die Kreuzverhöre der Anklagevertretung und des Gerichts nicht erlebt hat, liegt die Feststellung nahe, dass sie entgegen ihrem Wunsch doch sehr Wesentliches versäumt hat.
Arendts Quellen
Auf welchen Materialien basiert Arendts Bericht? Ihr standen »›wörtliche, unkorrigierte und unredigierte Niederschriften der Simultanübersetzung‹« der in hebräischer Sprache geführten Verhandlung in Englisch, Französisch und Deutsch zur Verfügung, die, wie Arendt weiter zitiert, »›keinerlei Anspruch auf fehlerfreie und stilistisch richtige Form erheben‹ können« (EJ, S. 9).1 Des Hebräischen nicht mächtig, benutzte sie das hebräische Gerichtsprotokoll nicht. Die Niederschrift der gedolmetschten Ausführungen des Gerichts, der Anklagevertretung, der Verteidigung, des Angeklagten und der Zeugen wurde der Presse zur Verfügung gestellt. Hinzu kamen die von der Anklagevertretung vorgelegten Dokumente, die diversen Schriftsätze von Anklage und Verteidigung und die Vernehmungsprotokolle von 16 Zeugen, die von der Verteidigung benannt und in der Bundesrepublik, Österreich und Italien kommissarisch vernommen worden waren. Auch die Plädoyers von Anklage2 und Verteidigung3 sowie die Urteile erster und zweiter Instanz zog sie heran. Weiter lag ihr als überaus wichtige Quelle die 3564 Blatt umfassende Transkription des Verhörs vor, von Avner Werner Less von Ende Mai 1960 bis Mitte Januar 1961 mit dem Untersuchungshäftling Eichmann in deutscher Sprache geführt.4 Dieses den in Jerusalem anwesenden Journalisten bereits im April 19615 ausgehändigte Dokument, von Eichmann in der Untersuchungshaft eigenhändig korrigiert und Blatt für Blatt abgezeichnet, war eine Hauptquelle für Arendts Interpretation des Angeklagten.6 Hinzu kam ein von Eichmann in Argentinien verfasstes Dokument, das die Anklagevertretung als Beweismittel vorlegte und das vom Gericht zugelassen, aber nicht der Presse zugänglich gemacht worden war.7 Nicht bekannt war Arendt das Protokoll der Gesprächsrunde im Hause Willem Sassen in Buenos Aires. Von April bis November 1957 hatte der vormalige Kriegsberichterstatter an Wochenenden Altnazis versammelt und die Gespräche auf Tonband aufgenommen. Die von Sassen erstellte Transkription von rund 800 Blatt lag in Jerusalem vor. 196 Protokollseiten erkannte Eichmann als authentisch an. Nur sie wurden vom Gericht als Beweismittel zugelassen.8 Vorgelegen haben Arendt auch die Auszüge aus dem Sassen-Protokoll, die im Stern (Juli 1960) und in Life (November/Dezember 1960) (EJ, S. 283) veröffentlicht worden waren.
Arendts Prozess-Bericht
Arendt verfasste ihrem Selbstverständnis nach einen bloßen »Bericht«, in dem »nur das zur Sprache« kam, »was im Prozeß verhandelt« wurde, »oder im Interesse der Gerechtigkeit hätte verhandelt werden müssen« (EJ, S. 14).1