TEXT + KRITIK Sonderband - Digitale Literatur II. Hannes Bajohr
den Moment gegenwärtiger digitaler Literaturproduktion darstellen. Für diesen transitorischen Charakter steht andererseits auch das Ladezeichen, das den Titel dieses Bandes ziert. Das spinner genannte (und normalerweise animierte) Symbol zeigt an, dass eine Anwendung geladen wird. Es markiert so ein besonderes Gegenwartsverhältnis – ein Jetzt, das auf eine unmittelbar zu erwartende, gewissermaßen infradünne Zukunft verweist.
Gregor Weichbrodt: »Loading Book«, Berlin 2018, o. S. Foto: Andreas Bülhoff.
Inspiriert ist die Titelgestaltung von Gregor Weichbrodts »Loading Book« (2018), das in der Tradition visueller und konzeptueller Poesie steht und eben jene transitorische Zeitlichkeit von Interfaces zum Thema hat; es zeigt gleichfalls einen spinner auf dem Titel. Im Buchinneren greift Weichbrodt – der im vorliegenden Band mit einem weiteren künstlerischen Beitrag vertreten ist – auf eine zweite Interface-Gestaltung zurück, die sogenannten skeleton screens (vgl. Abb.). Diese oft grau gehaltene, stilisierte Darstellung von Inhaltselementen mahnt die User nicht nur zur Geduld, sondern imitiert abstrakt das Layout der zu ladenden Webseite oder Applikation und nimmt so das Kommende vorweg. Skeleton screens erwecken den Eindruck, dass die Anwendung schneller lädt als sie es tatsächlich tut, und intensivieren so noch einmal den Zeitbezug des Ladezeichens. Beide sind Platzhalter der Zukunft, die den Moment eines bevorstehenden Wandels visuell als stetigen Übergang gestalten. Damit ist auch das Feld digitaler Literatur bestens illustriert, das gleichfalls im ständigen Wandel begriffen ist und zwischen Entwürfen von Zukünftigkeit vermittelt. Dass Weichbrodt dieses Sinnbild digitaler Zeitverhältnisse zurück in die klassische, gedruckte Buchform holt, ist dabei freilich ein eher postdigitaler als ›nur‹ digitaler Schachzug, der über den bewussten Medienwechsel die Spezifik von Analogem und Digitalem gegenüberstellt und ihre Verwobenheit betont.
Analog – Digital – Postdigital
Beginnen wir also mit den Problemen, die auf dem Titel »Digitale Literatur« lasten. Bereits Weichbrodts Remediation weckt Zweifel an der Tragfähigkeit des Begriffs, der um 2001 noch einigermaßen unproblematisch gebraucht werden konnte.3 Wo inzwischen das Digitale alle Lebensbereiche erfasst hat, erscheint die Aufrechterhaltung der Binäropposition ›analog – digital‹ immer fragwürdiger. Nicht nur, weil streng genommen »auch mit Word geschriebene Romane als ›digitale Literatur‹ zu bezeichnen« wären,4 sondern auch, weil das Gegensatzpaar eine durchaus ideologische Fortschrittsgeschichte impliziert.
Der Tatsache, dass im strikten Sinn keine klaren Grenzen mehr zwischen digital und analog zu ziehen sind, will der Begriff des ›Postdigitalen‹ Rechnung tragen. Auch er ist bereits 20 Jahre alt, bezeichnete ursprünglich ein Phänomen in der Musikproduktion5 und wurde vor weniger als zehn Jahren zur allgemeinen Bezeichnung jenes »messy state of media, arts, design after their digitisation«,6 in dem es schwer wäre, irgendeinen gesellschaftlichen Bereich ausfindig zu machen, der nicht vom Digitalen durchzogen wäre.
Das gilt nun auch für die Literatur. Bestes Beispiel dafür ist das gedruckte Buch. Nicht nur, weil jedes Buch durch mehrere digitale Vorstufen (vom Schreibakt per Textverarbeitung bis hin zu Druckvorlage und datenbankgestütztem Vertrieb) geht.7 Sondern auch, weil es sich, als jener Inbegriff des Analogen, zu dem es erst durch die digitale Wende geworden ist, im veränderten Mediengefüge der Gegenwart neu positionieren muss. Im Zuge dieser Neubesinnung wandelt sich das ›alte‹ Medium vermehrt von einer bloßen Standardlösung zum absichtlich gewählten Ausgabeformat: Es ist bewusst das gedruckte Buch statt der vielen verfügbaren digitalen Optionen, für das Autor*innen sich entscheiden.8
Wo zumindest eine Auslegung des Begriffs ›postdigital‹ die Differenz der beiden Pole selbst abschaffen will, indem sie deren unentwirrbare Verwobenheit betont, strebt ein anderer Ansatz die Ausweitung des Digitalen über digitale Technik hinaus und in die Geschichte hinein an. Grundlage ist hier eine symboltheoretische Bestimmung: Das Digitale wird als aus differenzierbaren Einheiten zusammengesetzt verstanden, das Analoge bildet ein kontinuierliches System.9 Diese Deutung bietet sich vor allem für die Literatur an, schließlich ist das Alphabet ein diskretes Zeichenrepertoire. Damit lässt sich die gesamte schriftliche Literaturtradition als digitale beschreiben, womit erneut, aber aus anderer Blickrichtung, die Opposition ›analog – digital‹ in sich zusammenfällt.10
Was also kann angesichts solcher Maximalpositionen noch sinnvoll als ›digitale Literatur‹ bezeichnet werden? Dieser Band plädiert dafür, darin weniger einen streng analytischen als vielmehr einen historischen und reflexiven Begriff zu sehen: ›Digitale Literatur‹ folgt sowohl einer heute recht klar zu identifizierenden Tradition und integriert zugleich eine bestimmte Art und Weise literarischen Verhaltens in der Gegenwart. Sie vollzieht nicht lediglich ›die Digitalisierung‹ mit – das ist in allen gesellschaftlichen Bereichen der Fall –, sondern reflektiert diese Grundbedingung heutiger Literaturproduktion und -rezeption. Sie ist sich, in einem Wort, ihrer Digitalität wesentlich bewusst. Und so kann auch ein scheinbar analoges Buch wie das »Loading Book« digitale Literatur sein.
Historisch: Bezug auf Vorgänger
Im Vergleich der beiden historischen Momente um 2001 und um 2021 springen eher die Differenzen als die Kontinuitäten ins Auge. Interaktivität, Intermedialität, Inszenierung scheinen heute weniger eindeutig Leitbegriffe zur Beschreibung digitaler Literatur zu sein.11 Die relative Marginalisierung dieses theoretischen Arsenals verlief parallel zum Abstieg seines exemplarischen Gegenstandes, des literarischen Hypertextes. Die hyper fiction – die vor dem Web in proprietären Darstellungssystemen wie Storyspace oder HyperCard, danach als im Browser abrufbare HTML-Datei realisiert wurde – betonte vor allem nichtlineare Narrativität und die Möglichkeit der Vernetzung von allem mit allem, was sie insbesondere poststrukturalistischen Beschreibungsansätzen öffnete.12 War so die technische Struktur des Web zum Organisationsprinzip einer Gattung erhoben, erschienen vielen Interpret*innen jener Zeit die Begriffe ›Internetliteratur‹ oder ›Netzliteratur‹ als sinnvolles Rubrum. So wurden selbst solche Arbeiten mit dem Netz identifiziert, die gar nicht darin entstanden waren oder es lediglich als Distributionskanal verwendeten.13
Doch auch 2001 fand diese frühe Kanonisierung Widerspruch: Der Hypertext wurde entweder als techno-utopistischer »Mythos« verabschiedet oder schlicht als ästhetisch »uninteressant« geschmäht.14 Er nutze zudem die technischen Möglichkeiten des vernetzten Computers nur oberflächlich, statt sich mit dessen symbolisch-operativer Tiefenstruktur auseinanderzusetzen.15 Dass die hyper fiction zudem zu einem Zeitpunkt aufkam, da sich electronic literature – ein vor allem im englischsprachigen Raum populärer Oberbegriff – als Feld mit einer eigenen Institutionsstruktur etablierte, motivierte N. Katherine Hayles dazu, ihre proprietäre Phase als »first generation electronic literature« zu definieren und ab der Migration ins Web um 1995 von einer »second generation« zu sprechen;16 als dritte Generation schlug kürzlich Leonardo Flores die Welt der Memes und sozialen Medien vor.17 Problematisch an diesem Generationenmodell ist nicht nur, dass es