TEXT + KRITIK Sonderband - Digitale Literatur II. Hannes Bajohr
gerade populäre, aus der Digitalkultur hervorgehende Formen ein bedeutsames Segment literarischer Produktion der Gegenwart sind, zeigt hingegen Niels Penke in seinem Beitrag.41 Trotzdem hat die digitale Literatur stets mit dem Vergleich zum Buch zu kämpfen. Sie kann ihn subversiv unterlaufen, wie im Falle von Weichbrodts »Loading Book«, oder affirmativ aufnehmen, wie bei den wieder zu Büchern gewordenen Facebook-»Statusmeldungen« von Stefanie Sargnagel oder den Social-Media-Collagen und »Tinder Shorts« von Sarah Berger, die in diesem Band mit einem künstlerischen Beitrag vertreten ist.42 Dass es in diesem Zwischenraum auch spezielle »Digitalverlage« gibt, die eine Mittlerfunktion zwischen den Sphären übernehmen, zeigt praxisnah der Beitrag von Christiane Frohmann.
Freilich besteht der größte Teil der heute produzierten digitalen Literatur aus Werken, die sich wenig um literaturwissenschaftliche Kategorien und Feuilletondiskurse scheren. Sie werden in einer fröhlichen Vielfalt medialer Formate produziert, die selbst die Grenzen des Literarischen aufweichen – etwa, wenn sie »Dateitypen als Publikationstaktik« betreiben,43 neben Text- und PDF- auch Video-, Ton- und Bild-Dateien verbreiten und sogar ZIP-Archive, offene PowerPoint- oder Google-Docs-Dokumente zirkulieren lassen und so »Austausch und Weitergabe gegenüber örtlicher Fixierung« betonen, was sie in den Augen von Harry Burke zum »Symbol für eine Dichtkunst in expandierenden Medienzusammenhängen« macht.44 Eben jene Zusammenhänge aber wurden von der digitalen Literatur vorbereitet und von ihrer Theoretisierung begleitet. Und so arbeitet digitale Literatur mit am Projekt eines erweiterten und ständig sich erweiternden Literaturbegriffs als Herausforderung für die Literaturwissenschaft.
Zukünftige Vergangenheit
Wie der spinner und die skeleton screens ist auch die digitale Literatur ein Platzhalter der Zukunft, deren eigene Vergangenheit stets unmittelbar bevorsteht. Nichts veraltet so schnell wie das Futurum der Gegenwart. Dass diese Literaturform daher ihre Geschichte immer wieder neu schreiben muss, ist ebenso klar wie die Schwierigkeit, sie auf Dauer zu stellen.
Das ist vor allem ein Problem für die üblichen Konsekrationsinstanzen und Sammelinstitutionen, die dieses Feld literarischer Praxis oft nicht oder zu spät und unvollständig erfassen. Die Tradierung und Theoretisierung digitaler Literatur ging daher in der Regel von den Akteur*innen selbst aus. Am einschlägigsten sind wohl die Electronic Literature Organization (ELO) mit ihrer Electronic Literature Collection, der Electronic Book Review sowie die Net Art Anthology, außerdem die p0es1s-Reihe und die ELMCIP- und ADEL-Datenbanken. Seiten wie netzliteratur.net und das Open Source-Organ »Dichtung Digital« dagegen sind mittlerweile weitgehend inaktiv oder in einer reinen Archivfunktion online. Digitale Werke und die Kontexte ihrer Entstehung – dafür stehen HyperCard und Flash nicht anders als »Dichtung Digital« – sind aber besonders ephemer, weshalb ihre Bewahrung und Überlieferung für zukünftige Forschung zentral sein muss.45
Es gibt Bemühungen etablierter Sammlungsinstitutionen: Das Innsbrucker Zeitungsarchiv erfasst digitale Literaturmagazine, -blogs und Autorenhomepages, während das Deutsche Literaturarchiv Marbach in einem Pilotprojekt »Literatur im Netz« archivierte; derzeit baut es zusammen mit der Universität Stuttgart ein »Science Data Center für Literatur« auf, das digitale Literatur nachhaltig für die Forschung sichern soll.46 Freilich sind viele Initiativen noch von einem aus der ersten und zweiten ›Generation‹ stammenden Begriff digitaler Literatur geprägt, der mit seiner eigenen Genealogie auch eigene Ein- und Ausschlusskriterien in Anschlag bringt. Die gegenwärtige Entwicklung wird man immer nur mit einiger Latenz begleiten können.
Es ist daher nicht nur theoretisch angebracht, in Zukunft den Begriff der digitalen Literatur ökumenisch offen zu halten, sondern auch praktisch wahrscheinlich, dass sie sich eher in weniger organisierten Formen fortspinnt – auf GitHub-Repositorien, Reddit-Threads und Twitter-Diskussionen – als in scharf umgrenzten Institutionen. Es kann dabei Beachtungskonjunkturen geben, es mögen sich ihr die Türen von Suhrkamp und des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs öffnen und Klett-Cotta mag die Experimente veröffentlichen, die etablierte, ›konventionelle‹ Autoren wie Daniel Kehlmann mit KI anstellen.47 Letztlich aber bleibt sie als immer futurische Form nur in ihrer jeweiligen Gegenwart fassbar, sodass ihre Zukunft nicht abzusehen ist. Es ist gut möglich, dass ein dritter TEXT+KRITIK-Band in weiteren 20 Jahren etwas ganz anderes unter ›digitaler Literatur‹ verstehen wird – oder der Begriff, als völlige Exekution des Postdigitalen, im Jahre 2041 dann gar keinen Sinn mehr ergibt. Bis dahin unternimmt der vorliegende Band die nötige Momentaufnahme, um ihr auch eine Vergangenheit zu sichern.
1 Vgl. etwa Felix Stalder: »Kultur der Digitalität«, Berlin 2016 oder Armin Nassehi: »Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft«, München 2019. Vgl. den Beitrag von Elias Kreuzmair. — 2 Philipp Hartmann: »Über Arbeiten zur digitalen Literatur«, in: »Arbitrium« 38, 2 (2020), S. 403–406, hier S. 404 f. Für eine brauchbare aktuelle Darstellung der Geschichte digitaler Literatur, vgl. Scott Rettberg: »Electronic Literature«, Cambridge 2019. — 3 Dass sich digitale Literatur von anderen literarischen Spielarten abgrenzen lässt, stand damals außer Zweifel. Von Anfang an umstritten war allerdings ihre geeignete Bezeichnung. Neben »digitaler Literatur« wurden etwa vorgeschlagen: »Electronic Literature«, »E-Poetry«, »digital literary art«, »ergodic literature«, »cybertext«, »Netzliteratur«, »digitale Dichtung«, »Internetpoesie«. Aus pragmatischen Gründen verzichten wir auf die genaue Diskussion dieser Terme, glauben aber, dass »digitale Literatur« ihre wesentlichen Bedeutungsschnittmengen abzudecken vermag. — 4 Hannes Bajohr / Kathrin Passig / Philipp Schönthaler: »Nichts als Hybride. Ein Gespräch über ›Digitale Literatur‹«, in: »Transistor« 2, 2 (2019), S. 18–29, hier S. 22. — 5 Vgl. Kim Cascone: »The Aesthetics of Failure. Post-Digital Tendencies in Contemporary Computer Music«, in: »Computer Music Journal« 4 (2000), S. 12–18. — 6 Florian Cramer: »What is Post-Digital?«, in: »APRJA« 3, 1 (2014), S. 8; zuvor auch ders.: »Post-Digital Writing« in »electronic book review«, 2012, http://electronicbookreview.com/essay/post-digital-writing (15.4.2021). — 7 Vgl. N. Katherine Hayles: »Intermediation«, in: »New Literary History« 38 (2007), S. 99–125. — 8 Vgl. Lori Emerson, »Reading Writing Interfaces«, Minneapolis 2014, S. 184. Damit steht die Rückkehr zum analogen Medium oft im Zeichen einer »aesthetic of bookishness«, die nicht nur Werkzeug von Avantgardeliteratur ist, sondern auch Eingang in das Programm großer Publikumsverlage gefunden hat (etwa J. J. Abrams /Doug Dorst: »S.«, New York 2013). »At the moment of the book’s foretold obsolescence because of digital technologies« steht dann »the emergence of a creative movement invested in exploring and demonstrating love for the book as symbol, art form, and artifact.« Jessica Pressman: »Bookishness. Loving Books in the Digital Age«, New York 2020, S. 1. — 9 Vgl. Nelson Goodman: »Sprachen der Kunst«, Frankfurt / M. 1995, S. 115–121. — 10 Vgl. z. B. Jens Schröter / Alexander Böhnke: »Analog / Digital. Opposition oder Kontinuum? Zur Theorie und Geschichte einer Unterscheidung«, Bielefeld 2004; Heinz Hiebler: »Die Widerständigkeit