TEXT + KRITIK Sonderband - Digitale Literatur II. Hannes Bajohr
Als ein solches Reflexionsmedium zweiter Ordnung thematisieren digitale Literatur und akademischer Diskurs die Ubiquität des Digitalen als mögliches Problem, etwa in Florian Cramers These, dass die Gegenwart bereits »post-digital« sei.20 Eine digital-literarische Reflexion dieser Problematik ist das von Lori Emerson beobachtete Interface Hacking, welches die »unsichtbar« gewordenen Interfaces wiederum sichtbar zu machen sucht.21
Ein multimodales Forschungsprogramm
Den diskutierten historischen Zugängen, digitale Literatur zu fassen, ist gemeinsam, dass sie auf mehreren technischen, semantischen und konzeptuellen Ebenen des Werks gleichzeitig ansetzen. Ein Ansatz zur Lektüre und Analyse digitaler Literatur muss, so wurde hergeleitet, multimodal sein: Nicht allein die dynamisch interaktive Bildschirmperformanz eines digitalen literarischen Kunstwerks ist Gegenstand des wissenschaftlichen Interesses. Vielmehr geraten (auch) der Quellcode, der Datenverarbeitungsprozess, der Code-Schreibprozess, der technische Kontext und deren historische Dimension in den Blick. Jedem Werk der digitalen Literatur sind eine mehrschichtige individuelle, literarische, mediale und technische Geschichte und ein multimodales Bezugssystem eingeschrieben, welche digital-literaturgeschichtliche Bezüge und Kontexte, mediengeschichtliche Aspekte der Bildschirmperformanz und Aspekte historischer digitaler Materialität (historische Aspekte des Quellcode, Programmiersprachen und -Umgebungen, Betriebssysteme und digitalforensische Befunde) umfassen können.22
Code, Prozess und literarischer Kontext
Cramers Studie »Exe.cut[up]able statements. Poetische Kalküle und Phantasmen des selbstausführenden Texts«23 lenkt den literaturwissenschaftlichen Blick methodologisch auf die Prozess- und Ausführungsebene von poetischen Kalkülen und literarischen Codeworks. Dies ist methodologisch durchaus folgenreicher als in der Forschung gemeinhin wahrgenommen wird, denn Cramers Lektüreansatz erfasst neben Bildschirmperformanz und Quellcode den Nachvollzug des algorithmischen Vorgangs als Teil des Verfahrens: So gelingt Cramer die lesenswerte Analyse der Concrete Perl Poetry Nick Montforts (etwa die 32 Zeichen langen Perl-Programme)24 und des Perl-Gedichts »jabberwocky.pl« (2000) des Programmierers Eric Andreychek. In Cramers Analyse erschließt sich das Code-Gedicht weder aus der sichtbaren Performanz noch allein durch die Textlektüre des Quellcodes, sondern ausschließlich durch den zusätzlichen Nachvollzug dessen, was im Programm-Arbeitsspeicher geschieht: ein Reenactment des Plots von Lewis Carrolls »Jabberwocky« in Form von Variablen, Listen, Systemprozessen (und überlebenden Demons), bei dem der Jabberwocky-Prozess sein Arbeitsspeicher-Leben lässt – während der Prozess »$son« ›überlebt‹: »(kill 9, $Jabberwock), $head = (chop $Jabberwock);«. Das literarische Kunstwerk »jabberwocky.pl« ist sein Quellcode und der unsichtbare Prozess im Arbeitsspeicher zur Laufzeit, während der Output des Gedichts lediglich »Beware the Jabberwock! at jabberwocky.pl line 8. / Beware the Jubjub bird at jabberwocky.pl line 10.« lautet.
Im Sinne eines multimodalen Leseansatzes wären bei der Lektüre von »jabberwocky.pl« mehrere, dem Gedicht in seine literarisch-technische Konzeption wie auch seine Implementierung eingeschriebene Kontextebenen zu berücksichtigen. Perl gilt als eine schwer lesbare Programmiersprache, die gleichwohl zu Beginn der 1990er Jahre zum Ausdruckmedium der Wahl für eine Code-Poetry-Bewegung wurde.25 2000 formierte sich die ›PerlMonks‹-Community, der Andreychek wenig später beitrat.26 Montforts Perl-Arbeiten bis hin zu seiner jüngsten, 256 Zeichen langen Hommage an den Chatbot ELIZA, »Eli«,27 sind späte Ausläufer dieser Bewegung, während etwa, zum Vergleich, die Teilnehmer*innen an den Wiener Code Poetry Slams der Jahre 2015, 2016 und 2017 sich mehrheitlich der lesbareren Programmiersprache Python bedienten.28 Nach Flores’ historischem Generationenmodell der digitalen Literatur wäre »jabberwocky.pl« zur ›zweiten Generation‹ zu rechnen.29
Auf einer technisch-konzeptionellen Ebene ließe sich eine Kontrafakturlinie von »jabberwocky.pl« zurück zur Tradition der algorithmisch generierten Literatur und deren Implementierungen ziehen: Dieses Perl-Gedicht verweigert gerade den direkt lesbaren literarischen Output, den das von Theo Lutz 1959 auf Zuse 22 implementierte Programm der »Stochastischen Texte« erzeugte. Die »Stochastischen Texte«, nach Stracheys »Love Letters« (1952) die ersten algorithmisch generierten literarischen Texte, gehen auf die Zusammenarbeit mit Rul Gunzenhäuser und den nunmehr als politisch belastet geltenden Stuttgarter Professor Max Bense zurück, welcher Lutz’ Werk nachträglich theoretisch unterfütterte.30
Bis heute verweisen Vertreter*innen des sogenannten konzeptuellen Schreibens – ein Modus des Schreibens, bei dem die formale Fassung einer Idee, eines abstrakten Schemas der ›nebensächlichen‹ Ausführung vorangeht, die zum Beispiel algorithmisch prozessierend erfolgen kann31 – zurück auf diese ersten technischen Implementierungen, wie auch auf die literarischen Konzepte der Wiener Gruppe und der Gruppe OuLiPo. Die historischen Wurzeln der konkreten Code Poetry reichen zweifellos zurück zu den Dichtungen Eugen Gomringers und OuLiPos, etwa François le Lionnais’ ALGOL-Gedicht »Table / Begin: (…)« von 1972.32 Die von Konrad Bayer mit Oswald Wiener 1957–58 auf Papier als Funktionsdiagramm konzipierte, gleichwohl nie implementierte »dichtungsmaschine in 571 Bestandteilen« könnte als ein analoger historischer Prototyp konzeptuellen Schreibens gelesen werden.33 Cramer leitet die Verfahrensweise seiner Code- und Prozessanalyse literaturgeschichtlich her, weit zurückreichend bis zu den kombinatorischen Wortkalkülen Raimundus Lullus’, Quirinus Kuhlmanns, Georg Philipp Harsdörffers, berechtigtermaßen unter anderem auch Friedrich von Hardenbergs »Allgemeines Brouillon«.34 In der reichen literaturhistorischen Reihe vermisst man allenfalls Hölderlins »kalkulable(s) Gesez«,35 seine poetologisch-kombinatorischen Tabellen36 und eine ausführlichere Berücksichtigung der Wiener Gruppe. Kennzeichnend für Cramers historische Analyse ist auch, dass er neben Literaturen der Moderne (Tzara, Schwitters, Gomringer) auch den Einfluss von »Sprachalgorithmik« auf den linguistischen und literaturwissenschaftlichen Strukturalismus berücksichtigt.37
Digitale Forensik, Medienphilologie und Critical Code Studies
Grundlagen für eine Philologie der digitalen Literatur sind vor allem im angelsächsischen Raum gelegt worden. Im Rahmen dieser Skizze bereits etablierter Ansätze für philologische und literaturwissenschaftliche Analysen von digitaler Literatur seien hier exemplarisch die Studien Matthew Kirschenbaums, Lori Emersons und Mark Marinos hervorgehoben. Diese Studien analysieren bereits ältere Werke, können allerdings als paradigmatisch mit Blick auf ihren analytischen Umgang mit deren spezifischer historischer digitaler Materialität gelten.
In seiner digitalforensisch angelegten Studie »Mechanisms« von 2008,38 welche seiner Literaturgeschichte der digitalen Textverarbeitung (2016)39 vorangeht, analysiert Kirschenbaum drei einschlägige Werke