TEXT + KRITIK Sonderband - Digitale Literatur II. Hannes Bajohr
A Story« (1987) und William Gibsons elektronisches Gedicht »Agrippa« (1992). Kirschenbaum rekonstruiert die Quellen und Textgeschichte der Werke anhand ihrer digitalen historischen Materialität des digitalforensischen Befundes, einschließlich der Geschichte der illegalen Vorabveröffentlichung von »Agrippa« durch Hacker auf USENET.40 Kirschenbaum überträgt digitalforensische Beweissicherungs- und Analysemethoden von Datenträgern (»forensic imaging«) in den Bereich der Philologie.41 Das Modell ist übertragbar auf digitale Literatur der Gegenwart und aktuelle Technologie: Aus der digitalen Forensik bekannte Methoden werden auch bei der Archivierung digitaler Kunstwerke angewandt, um wichtige Spuren der Bearbeitung, Prozessierung, digitalen Umgebung und deren historische digitale Materialität zu bewahren und analysierbar zu machen.42
Emerson findet in ihrem Buch zur Kulturgeschichte digitaler Schreib-Interfaces einen literaturmedien-historischen Zugang zu Jörg Piringers iPad-App »abcdefghijklmnopqrstuvwxyz« (2010), welcher auch für andere seiner Werke, etwa »tiny poems« (2015) für iWatch, trägt.43 Sie liest Piringers App als eine interaktive, kinetische Poesieplattform (»iPoem«), mittels derer Nutzer*innen auf spielerische Weise ein von der proprietären iOS-Plattform nicht vorgesehenes Maß an kreativem Einfluss auf einen Text ausüben können.44 Nicht zu Unrecht versteht Emerson Piringers Werk als eine hacktivistische Intervention, welche auf die »Defamiliarisierung« von selbstverständlich und »unsichtbar« gewordenen Benutzeroberflächen für die Nutzer*innen setzt – mit dem Ziel, die dem Schreiben durch die Interfaces gesetzten Grenzen sichtbar zu machen, zu verschieben und programmierend aufzuheben.45 Den Studien Kirschenbaums und Emersons ist der Ansatz gemeinsam, letztlich an digitaler Literatur das remedialisierte Forschungsprogramm der literarischen, literaturwissenschaftlich-philologischen und medienwissenschaftlichen Praxis der New Philology, Analytical Bibliography und Book History fortzusetzen und die digitalen Werke entsprechend zu lesen.
Marinos 2020 erschienenes Buch »Critical Code Studies«46 arbeitet in exemplarischen Fallstudien kritische Lektüreverfahren für Software heraus, welche die historische Materialität des Quellcodes, die Laufzeit-Prozessebene und Funktionalität der Software unter einem geisteswissenschaftlichen Blickwinkel interpretieren. Das Kapitel zu Montforts generativem Code-Gedicht »Taroko Gorge« (2009) und dessen Bearbeitungen durch andere Autor*innen ist das einzige, welches ein Werk der digitalen Literatur zum Gegenstand hat. Der überschaubare Python-Code des Originals – Montfort bevorzugt nach eigener Angabe Python für die poetische Denkarbeit (»Python is a programming language I prefer for when I’m thinking«)47 – erzeugt Zeile für Zeile einen endlosen, meditativ anmutenden Gedichttext in regelhaft alternierenden Versgruppen (2–1), wobei dieses Schema ab und an durch drei- und vierversige Strophen unterbrochen wird. Der Titel, die Kommentare im Quellcode und die verwendeten Verbformen legen nahe, dass der vom Gedicht erzeugte Rhythmus an einen Gang durch eine Schlucht im Taroko-Nationalpark erinnert »# 8 January 2009, Taroko Gorge National Park, Taiwan and Eva Air Flight 28«, »walking (…)«, »stopping (…)«.48 Der Code des Gedichts wurde von anderen Autor*innen mehr als 20 Mal adaptiert und in andere Programmiersprachen übersetzt.49 Im Rahmen seiner philologischen Dokumentation und Analyse von Montforts Python-Quellcode und ausgewählten Code-Fragmenten der Bearbeitungen präpariert Marino einen für digitale Literatur spezifischen Modus literarischer Intertextualität heraus: Wie Scott Rettberg (Bearbeitung: »Tokyo Garage«) nennt J. R. Carpenter ihre Bearbeitung des Gedichts unter dem Titel »Gorge« einen »Remix«. Ähnlich Rettberg und den meisten Bearbeiter*innen behält Carpenter Montforts Code-Funktionalität im Wesentlichen bei, tauscht allerdings das Vokabular aus, sodass »Gorge« einen formal dem Original ähnelnden Textstrom erzeugt, allerdings mit eher viszeral Ekel auslösender Semantik (»gorge«, dt. Schlucht; »to gorge«, dt. schlingen). Während Rettberg sich jede Zeile von Montforts Quellcode aneignet, um »Tokyo Garage« zu schreiben, belässt Carpenter einige in ihrem Programm funktionslose, nicht angeeignete Codezeilen – beziehungsweise ihr in Javascript übersetztes Äquivalent – im Programm. Es geht um die Python-Zeilen in Montforts Code, welche das Wort »monkeys« auslösen, wenn die Zeichenfolge »forest« auftaucht: »if u[0]=='f': / u=c([u,u,'monkey'])«,50 in Carpenters »Gorge« übersetzt nach Javascript: »if ((words= ='forest')&&(rand_range(3)==1)) { / words='monkeys '+choose(trans);«.51 Da die Buchstabenfolge »forest« durch Carpenters »Gorge«-Code nicht erzeugt wird, sind diese Code-Zeilen funktionslos, aus technischer Sicht überflüssigerweise nach Javascript übersetzt. Marino liest in dieser Anomalie ein »Memento«, eine reflexive Code-Erinnerungsspur von Montforts Original.52 Diese Interpretation erscheint insofern plausibel, als Carpenter ihre programmierten Kunstwerke häufig mit reichhaltigen Codekommentaren und Quellenverweisen versieht (vgl. etwa den Quellcode des im Browser ablaufenden Gedichts »There he was, gone«).53 Flores wertet die »Taroko Gorge«-Remixes als Anzeichen eines Desinteresses der »dritten Generation« an Originalität.54 Wiederverwenden, Abwandeln und öffentliche Diskussion des Quellcodes eines digitalen Kunstwerks sind allerdings eine übliche Form der Hommage, des lebendigen Austauschs, wie etwa Amaranth Borsuks »Curt Curtal Sonnet Corona« (2020) zeigt, welches offen als Variante der Codebase von Montforts Pandemie-Gedicht »Sonnet Corona« (2020) firmiert.55
Statt eines Schlusses
Digitale Literatur stellt eine Herausforderung für die Literaturwissenschaft dar, für grundlegende Kategorien wie den Text- und Literaturbegriff, für die Praxis der Analyse und Interpretation, für die Literaturgeschichte wie auch für die Archivwissenschaft. Die Integration des Gegenstandes in das Forschungsfeld der Literaturwissenschaft erfordert einen multimodalen Ansatz, der Lektüremodelle für die multiplen Analyseebenen digitaler Kunstwerke (Performanz, Code und Modell, Prozess und Funktion, ästhetisches Programm) und die ihnen eingeschriebenen historischen Dimensionen (Text- und Implementierungsgeschichte und digitalforensische historische Materialität, Archiv; Kontexte der Literatur- und Mediengeschichte, Geschichte der digitalen Literatur, Technologiegeschichte) untereinander wie auch für die germanistische Literaturwissenschaft anschlussfähig zusammenführt. Der vorliegende Beitrag hat anhand ausgewählter Forschungsliteratur Ansätze zu Lektüre-, Analyse- und Kontextualisierungsmodellen skizziert, welche in einem multimodalen Forschungsprogramm zu integrieren wären, das mediengeschichtliche und digitalforensische Ansätze sowie Critical Code Studies vereint.
1 Die diesem Beitrag zu Grunde liegende Forschung wurde finanziert durch den Flämischen Wissenschaftsfonds, FWO, Universität Gent, Projekt »Hard Drive Philology / Source Code Philology (…)« (2017–18, 2019–20). — 2 Hannes Bajohr (Hg.): »Code und Konzept: Literatur und das Digitale«, Berlin 2016; sowie das Weblog des Kollektivs 0x0a, https://0x0a.li/de (31.5.2021); Friedrich W. Block: »p0es1s: Rückblick auf die digitale Poesie«, Klagenfurt 2015; Florian Cramer: »Exe.cut[up]able Statements. Poetische Kalküle und Phantasmen des selbstausführenden Texts«, München 2011; Chris T. Funkhouser: »New Directions in Digital Poetry«, New York 2012; Peter Gendolla / Jörgen Schäfer (Hg.): »Beyond the Screen: Transformations