TEXT + KRITIK Sonderband - Digitale Literatur II. Hannes Bajohr
die Akzentuierung der Materialität des Buches lässt sich als Reaktion auf digitale Formate verstehen. Alexander Starre spricht von »Buchwerken«, deren Voraussetzung die »Existenz eines komplett eigenständigen und in sich geschlossenen digitalen Kommunikationskreislaufs« sei, der »das gedruckte Buch vom Standardmedium in den Status eines Wahlmediums«6 transponiert habe.
Eine weitere Form bilden literarische Texte, die häufig dem Bereich der ›Digitalen Literatur‹, ›Elektronischen Literatur‹ oder auch ›Generativen Literatur‹ zugerechnet werden, die aber auf ganz unterschiedliche digitale Produktionsverfahren setzen. Auch in diesem Bereich sind postdigitale Phänomene zu beobachten, etwa der Rückgriff auf das gedruckte Buch als Publikationsmedium.7 Sowohl diese Gruppe als auch die ›Buchwerke‹ adressieren das Digitale unmittelbar durch die Erzeugung von Rückkopplungseffekten zwischen der sogenannten materiellen und der semantischen Ebene von Texten. Beide lassen sich als Auseinandersetzung mit dem »in sich geschlossenen digitalen Kommunikationskreislauf« als einem Teilaspekt einer ›digitalen Gesellschaft‹ verstehen.
Für konventionelle Romanliteratur, die immer noch weit verbreitet ist, hat sich hingegen eine gewisse Flexibilität in Bezug auf das Publikationsmedium als Standard herausgebildet. Sie sind als gedrucktes Buch und als E-Book – auf Smartphones, Tablets, Readern – und damit in unterschiedlichen Formaten verfügbar, ohne dass sie diese Verfügbarkeit unbedingt explizit herausstellen und Rückkopplungseffekte zwischen sogenannter materieller und semantischer Ebene im Fokus stehen. Seit Mitte der 2000er Jahre findet sich jedoch in dieser Gruppe eine immer größere Menge von Texten, die auf differenzierte Weise auf den Digitalisierungsdiskurs reagiert und diese in textuellen Verfahren, Strukturen sowie auf thematischer Ebene adressiert. Wie im Fall der anderen beiden Gruppen wurden diese Reflexionen auf Digitalisierung mit dem Begriff des Postdigitalen beschrieben.8 Relativ unbestimmt blieb dabei im Gegensatz zur postdigitalen generativen Literatur oder zu Bookishness-Phänomenen jedoch, was über eine zeitliche Einordnung in die Konsolidierungsphase digitaler Medien hinaus der Begriff des Postdigitalen für sie bedeuten könnte. Der folgende Vorschlag setzt zunächst bei anderen Formen gesellschaftlicher Selbstbeschreibung an, um dann in vier kurzen Lektüren auf literarische Texte zurückzukommen.
2 Die Zeit der ›digitalen Gesellschaft‹
Das Digitale ist zur zentralen Kategorie gesellschaftlicher Selbstbeschreibung geworden. Es wird nicht mehr als Zukunft, sondern als Gegenwart der Gesellschaft bestimmt und ist die zentrale Erklärungsfigur für ihre Verfasstheit. Diese Entwicklung verdeutlichen soziologische Studien wie »Kultur der Digitalität« (2016) von Felix Stalder, »4.0 oder die Lücke, die der Rechner lässt« (2018) von Dirk Baecker oder »Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft« (2019) von Armin Nassehi. Der Status des Digitalen als zentrale Figur der Selbstbeschreibung hat zur Folge, dass diese Studien das Digitale zwar auch im Kontext einer medientechnischen Transformation adressieren, aber deutlich weitreichendere Bedeutungspotenziale für den Begriff entdecken. So schreibt Nassehi in der Einleitung zu »Muster«: »Ich werde behaupten, dass die gesellschaftliche Moderne immer schon digital war, dass die Digitaltechnik also letztlich nur die logische Konsequenz einer in ihrer Grundstruktur digital gebauten Gesellschaft ist.«9 Auch Stalder positioniert das Konzept der Digitalität in diesem Sinn: »Der Begriff ist mithin nicht auf digitale Medien begrenzt, sondern taucht als relationales Muster überall auf und verändert den Raum der Möglichkeiten vieler Materialien und Akteure.«10 Der Skopus von Baeckers medientheoretisch informierter Beschreibung einer »nächsten Gesellschaft« ist ähnlich ausgreifend. Ob man die Digitalisierung wie Nassehi als Effekt gesellschaftlicher Problemstellungen oder wie Stalder und Baecker gesellschaftliche Strukturen als Effekt medialer Transformationen versteht, ist in diesem Zusammenhang weniger relevant. Auch ob etwas technisch gesehen digital oder analog ist oder ob eine Kopplung der beiden Zustände vorliegt, spielt für die gegenwärtige Rede vom Digitalen erst einmal eine untergeordnete Rolle.11 Gerade Nassehis Rede vom »Immer-Schon« des Digitalen macht in seiner Zuspitzung deutlich, dass die Sprecher*innenposition eine ist, die sich in einer ›digitalen Gesellschaft‹ verortet. Dass die Kategorie des Digitalen in der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung auch jenseits des Technischen dominant geworden ist, zeigt an, dass die soziologische Reflexion über Digitalisierung ihre postdigitale Phase erreicht hat.
Digitalisierung ist in dieser Phase nicht mehr das Zukünftige, sondern als vollzogene gegenwärtig. Im Zuge dieser Verschiebung der zeitlichen Konnotationen von Digitalisierung verschiebt sich zugleich die Wahrnehmung von Zeit. In allen drei genannten Studien ist mit der postdigitalen Akzentuierung des Digitalisierungsbegriffs auch der gesellschaftliche Blick auf die Gegenwart gerichtet. Stalder spricht von der »lebensfeindlichen Temporalität« der »permanenten Gegenwart«,12 die die Gemeinschaftsformen von »Kulturen der Digitalität« präge. Bei Nassehi ist die Rede von einer »radikalen Gegenwartsorientierung der Sozialen Medien« und dem »Netz als Archiv aller möglichen Sätze« und damit auch aller möglichen Zukünfte.13 Baecker beschreibt als prägend für die Zeit der von ihm sogenannten »nächsten Gesellschaft« die »unbekannte Zukunft in ihrer Gegenwart als Krise«.14 Statt den Blick nach vorn wenden zu können, ist die »nächste Gesellschaft« mit der Bearbeitung zukünftiger Krisen in der Gegenwart beschäftigt. Stalder, Nassehi und Baecker stehen mit ihrer Diagnose nicht allein, sondern werden von einer Reihe weiterer seit der Popularisierung und Kommerzialisierung des Netzes Mitte der 2000er erschienener zeitdiagnostischer Texte sekundiert, die mit der Digitalisierung ebenfalls eine Gegenwartsfixierung verbinden, die zudem oft mit einer Limitierung der Handlungsmöglichkeiten durch den Wegfall der Zukunft als Möglichkeitsraum gekennzeichnet ist.15 Nachdem im postdigitalen Zustand Zukunft nicht mehr durch die Gegenwart gewordene Digitalisierung besetzt ist, ist Gegenwart zur zentralen Zeitform der ›digitalen Gesellschaft‹ geworden. Die Gesellschaft der Gegenwart ist aus Sicht der Zeitdiagnostik also eine im doppelten Sinn gegenwärtige. Bringt die literarische Reflexion von Digitalisierung im postdigitalen Zustand ähnliche Zeitwahrnehmungen hervor?
3 Aktualisierung als Verfahren: Julia Zanges »Realitätsgewitter« (2016)
Julia Zanges »Realitätsgewitter« führt die Produktivität der Aktualisierungsmodi digitaler Medien für das Erzählen vor und legt das Augenmerk insbesondere auf das Digitale als von außen intervenierender Impuls. Verstärkt wird dieser Eindruck durch das Erzähltempus Präsens, die Kürze der Sätze und einen parataktischen Stil. Der Roman, der von der Berliner Teilzeitkulturjournalistin Marla, ihrem Smartphone und ihrer Suche nach gelingenden Sozialbeziehungen handelt, ist ein erzählerisches Experiment mit von digitalen Medien induzierter Gegenwartsfixierung. Die Protagonistin ist einem »Realitätsgewitter« von Ereignissen ausgesetzt, Benachrichtigungen auf ihrem Smartphone treiben die Erzählung voran. Zukunft als Möglichkeitsraum gerät so gar nicht erst in den Blick.
»Realitätsgewitter« beginnt mit einem Facebook-Post – das erste Motto lautet: »The misappropriation of attention as care is a major existential problem of our time. / Deanna Havas, Facebook, 17 minutes ago, NY City«16. Das Statement der zum Erscheinungszeitpunkt als aufstrebende Netz-Künstlerin geltenden Havas signalisiert die ambivalente Haltung des Textes gegenüber digitalen sozialen Medien.17 Einerseits kann man den Verweis auf die Zweckentfremdung von Aufmerksamkeit als Anteilnahme als eine Folge digitaler Medien lesen, andererseits nutzt der Post Facebook als Reflexionsmedium. In einem zweiten Motto wird