TEXT + KRITIK Sonderband - Digitale Literatur II. Hannes Bajohr
Daria Finkelhor, einen Teilzeitjob hat.29 Diese Behörde nimmt insbesondere die Vorgänge im »Rowdy Yates Komplex«, einem in die Jahre gekommenen, einst futuristischen Sozialbau, unter die Lupe, in dem sich verschiedene Gruppen organisieren, um auf den Rückzug des Meeres zu reagieren. Eine von ihnen sind die titelgebenden Miami Punks, die irgendwann die tiefer liegenden Teile des Gebäudes übernehmen und für die Behörde mehr und mehr zum zentralen Beobachtungsobjekt werden.
Die Motivkette Dystopie-Utopie-Vergemeinschaftung beginnt mit der Partie »Age of Empires II«, die die Protagonistin Robin zu Beginn des Romans spielt. Auch die nach dem Rückzug des Meeres entstehenden Kolonien arbeiten daran, in der Wüste zivilisatorische Errungenschaften von Grund auf neu aufzubauen. Sie setzt sich fort mit dem passagenweise auftretenden Ich-Erzähler, der an dem ›Counter Strike‹-Turnier teilnimmt und eine Habilitation über den poetischen Staat anfertigt.30 Sie findet sich auch im sogenannten »Kongress« im Rowdy Yates Komplex, wo ein Vortrag über die »Entwertung aller utopischen Versprechungen der Automatisierung menschlicher Tätigkeiten«31 gehalten wird, der unter anderem von einem »Bloch« diskutiert wird, der wiederum behauptet, »im Jahr 1885 geboren worden, aus Nazi-Deutschland nach Miami geflohen sowie der vielgeschätzte Autor des dreibändigen Buches ›Das Prinzip Hoffnung‹ zu sein«32. In diese Reihe gehört schließlich auch der »Rowdy Yates Komplex« selbst als sozialutopischer Entwurf.
Als Experimentalanordnung innerhalb des Romanexperiments erscheinen dann neben ›Age of Empires II‹ auch andere Computerspiele und Computerspielprojekte, die die Frage der Vergemeinschaftung auf allen Ebenen stellen: ›Age of Empires II‹ auf einer Makroebene und ›Counter Strike‹ durch die Fokussierung auf Teamdynamiken und die im Turnier auftretenden Glitches auf der Ebene kleinerer Gruppen. Über die Glitches heißt es: »So gab es z. B. zwei mehr o. weniger direkte Bezüge zu Miami (…) u. immer schien es entweder um eine Familie, eine Gruppe von Freunden o. um das Leben der Angestellten in den Büros von cs_office zu gehen.«33 Seinen Höhepunkt erreicht diese Verknüpfung von Computerspiel und Gesellschaftsreflexion schließlich in Robins nach Pierre Bourdieus Klassiker benanntem Spielprojekt »Das Elend der Welt«, über das es in einem Antragsschreiben heißt: »Anstatt, dass der Spielende in der Illusion lebt, auf sich ewig verzweigenden Pfaden zu wandeln, obwohl er in Wirklichkeit nur den vorgefertigten (…) Erzählbrotkrumen folgt, soll sich in ›Das Elend der Welt‹ eine Geschichte entfalten, die sich nicht aus der Deutungshoheit der Studios speist, sondern aus den Biografien der Spielenden selbst.«34 Die daraus folgende multiperspektivische Anlage des Spiels, die anstelle einer homogenen Erzählung viele heterogene individuelle Erzählungen spielbar macht, deutet auf die multiperspektivische Anlage des Romans – von der Nebenfigur Juan über die Passagen mit Ich-Erzähler bis zum »Katalog letzter Gedanken der fliegenden Dinge ohne Bedeutung«35 – mit seinen wechselnden Erzählformen, durch die Menschen und Dinge als gleichwertige Elemente innerhalb eines sozialen Systems dargestellt werden. In diesem Kontext positioniert der Roman verschiedene utopische Projekte, die weniger utopische Zukunft als Reste einer Vergangenheit sind, in der utopisches Denken noch möglich war. Dies gilt für den »poetischen Staat« genauso wie für den »Rowdy Yates Komplex« und die dort gehaltenen Vorträge. Auch die Weltentwürfe der Computerspiele lassen sich als ein Rest utopischen Denkens verstehen. Das literarische Programm des Romans orientiert sich dagegen eher an Bourdieus »Das Elend der Welt«: individuelle Stimmen in nicht-privilegierten Positionen zum Sprechen zu bringen.
6 Rückzug ins Private: Joshua Groß’ »Flexen in Miami« (2020)
Im Gegensatz zu »Miami Punk« fokussiert Joshua Groß’ »Flexen in Miami« (2020) nicht eine Gesellschaft als Gesamtzusammenhang, sondern ein einzelnes Subjekt, den Stipendiaten Joshua. Noch deutlicher als bei Guse spielt bei Groß die Ästhetik und Musik des Post internet-Genres Cloud Rap eine Rolle.36 Erkennbar wird dies unter anderem an all den lilafarbenen Dingen im Roman: ein Poloshirt, ein Tesla, die Nacht, die Drogen, Laserstrahlen, Treppen und vor allem und immer wieder der Himmel und die Wolken.37 Der Protagonist Joshua ist sich seiner Verstrickung in die gesellschaftlichen Zusammenhänge bewusst: »Ich war (…) ein bleicher Nachkömmling westlicher Ausbeutermentalität; und einer Ignoranz, die mich täglich trug und infiltrierte, die ich erduldete, die ich notgedrungen mein ganzes Leben lang verkörpern würde, mit all ihren Konsequenzen, mit all meiner Scham, mit all ihrer internalisierten Zerstörungswut und Übergriffigkeit. Ich würde mich davon nie vollständig befreien können.«38 Dass der Protagonist Joshua heißt, markiert zugleich auch das Bewusstsein des Autors dafür, dass er aus einer spezifischen Position spricht. Der durch eine Drohne versorgte und überwachte Protagonist ist auf der Suche nach widerständigen Praktiken gegen den digitalen militärisch-ökonomischen Komplex. Schon die ersten Sätze kündigen das an: »Ich ahnte überall Glitches, das geht zurück auf meine Mutter. Ein Misstrauen gegenüber dem Wirklichen, eine parawissenschaftliche Wachheit bezüglich der Instabilität. Ich wurde von Immersionen gemartert und meine eigene Existenz war eine entsetzliche Mühsal. Deshalb rauchte ich so viel Marihuana.«39 Darin drückt sich einerseits die Hoffnung aus, durch Bewusstseinserweiterung einen Blick auf die Bruchstellen der Realität zu erhaschen und so die diese beherrschenden Kräfte bestimmen zu können. Andererseits wird Joshuas Leben als eine Außenseiterexistenz markiert, die von den Nebenwirkungen jener Bewusstseinserweiterungen beeinträchtigt ist.
Neben seinem Drogenkonsum kann auch das Computerspiel ›Cloud Control‹ in diesen Zusammenhang gestellt werden. Wie die Drogen führt auch ›Cloud Control‹ zu einer Verzerrung realer Verhältnisse: angefangen mit seinem Avatar – »1,93 Meter groß, rosa Locken, in den Augen Polarlichter, Thug Life-Tattoo auf dem Bauch«,40 eine Kompassqualle als Begleiterin – bis zur Funktionsweise des Spiels, das sich aus dem digitalen sozialen Netzwerk seiner Spieler*innen generiert. Gegen Ende, der Rapper Jellyfish P spielt mit Joshuas Account, teilt ihm dieser mit: »Die Qualle sagt: Immunisiere dich und beende den Austausch mit den Apparaturen der Macht. Sie sagt: Entwickle andere Formen der Abweichung. Sie sagt: Du bist mehr als die Widerstände in dir.«41 P reagiert darauf, indem er seine Doppelgänger, die im Spiel immer häufiger auftauchen, brutal massakriert. Joshua hingegen kommt zur Einsicht, »dass es mir eigentlich die ganze Zeit egal gewesen war, wer die Drohnen geschickt hatte, um mich zu überwachen; ich hatte nur wissen wollen, ob es tatsächlich möglich war, dass ich all das – diese abseitige, wundersame Existenz – aushielt und weiterführte.«42 Sein Ziel ist schlussendlich also nicht Kritik und Überwindung der herrschenden Verhältnisse, sondern ein erträgliches Leben. Im Epilog deutet sich an, wie dieses Leben aussehen könnte: eine familienähnliche Gemeinschaft mit Jellyfish P, dessen Entourage sowie einem Kühlschrank, der Joshua über den Roman hinweg ein fürsorglicher Begleiter ist, und seinem im Lauf des Romans gezeugten Kind. Anstelle eines Aufbegehrens gegen digitale Überwachung, wie sie Beta in »Pixeltänzer« zumindest ankündigt, steht im Fall von Joshua der Rückzug ins Private der Kommune mit Kühlschrank.
7 Die Zukunft der Gegenwart
Augenfällig wird in diesen Romanen erstens, dass das Digitale ganz ähnlich wie in der soziologischen Selbstbeschreibung der Gesellschaft bei Nassehi, Stalder und Baecker nicht nur im Bereich des Technischen verortet wird, sondern dem Sozialen grundlegend eingeschrieben ist. Zweitens