Bildungsphilosophie für den Unterricht. Philipp Thomas

Bildungsphilosophie für den Unterricht - Philipp Thomas


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mehr zu vertrauen und auf sie zu hören, kann es uns gelingen, das Band zu durchtrennen, das uns von einem wirklich unabhängigen Leben abhält. Oft wissen wir, was gut für uns wäre, doch wir sind zu schwach es einfach zu tun. So gesehen ist es eine Bewegung des empowerment, der Selbstermächtigung, jene Instanz in uns zu stärken, welche uns Freiheit geben kann, nämlich unsere Vernunft.

      Auch Epiktet geht es um eine vernüftige Lebensführung, in der wir uns unabhängig machen von den Stimmungen, die unser Wohlergehen trüben, z.B. Sorge und Angst, Begehren und Ärger. Für ihn beginnt das menschliche Leben ebenfalls erst richtig, wenn es durch Vernunft bestimmt ist.

      2.4 Vernunft ist großartig. Aber es gibt im Menschen auch noch anderes Großartiges

      Unabhängig zu werden durch Vernunft ist gut. In diesem Kapitel ist deutlich geworden, weshalb in unserer Kultur, die stark beeinflusst wurde von der Antike, Vernunft so hoch im Kurs steht. Wir können nachvollziehen, was Aristoteles, Epikur und Epiktet damit meinen, wenn sie sagen, der Mensch komme dort ganz zu sich selbst, wo er sich durch Vernunft unabhängig macht von seinen übertriebenen Ängsten und seinen übertriebenen Begierden, von seinen Wünschen nach Anerkennung und nach Erfolg. Normalerweise sind wir Menschen in diesem Sinne, wie man sagt, ‚Fässer ohne Boden‘. Die Vernunft kann uns helfen, uns davon unabhängig selbst zu bestimmen. Unsere Kultur hat dies als Lebens- und Bildungsziel auch aus der Antike übernommen.

      Liebesfähig zu werden, ist auch gut. Die antike Anthropologie, derzufolge der Mensch vor allem durch Vernunft ausgemacht wird, können wir heute ergänzen. Auch die Liebe ist etwas Großartiges bei uns Menschen (Kap. 13), dazu gehören Herzensbildung (Kap. 14) und der Sinn für das bedingungslos Gute, die Fähigkeit, füreinander das Beste zu wollen und zu tun (Kap. 3 und 14). Und es gibt noch anderes Großartiges: Das Ideal, ein ganz eigenes Leben zu führen und seine individuellen Eigenschaften zu verwirklichen (Kap. 7 und 11). Zu diesem Ideal gehört es auch, für dieses Eigenste die Stimme zu erheben und dadurch ein wenig zu verändern, was Normalität heißt (Kap. 8).

       Ihre Antwort auf die Frage Ihrer Schüler:innen:

      Warum steht die Vernunft so hoch im Kurs? Ist Vernunft wirklich so wichtig? So könnten Sie antworten:

       Beim Vernünftigsein geht es erstmal nicht um etwas Moralisches, sondern um Unabhängigkeitskompetenz: um Eure Fähigkeit, innerlich frei zu sein.

       Als lebendige und soziale Wesen sind wir alle getrieben und beherrscht von Leidenschaften und Bedürfnissen: Wir haben Angst um unseren Körper. Wir sind abhängig von sozialer Anerkennung. Wir wollen Ruhm und Ehre. All das gehört zum normalen Leben dazu. Vernunft kann Euch immer wieder aus dieser Abhängigkeit befreien.

       Je stärker Eure Vernunft ist, je besser Ihr sie ‚trainiert‘ habt, desto freier werdet Ihr – und desto besser könnt Ihr Euch selbst bestimmen.

      Wenn Sie sich noch weiter interessieren

      Die Vernunft als kulturelles Ideal sowohl in der Antike als auch in der Moderne ist stark verbunden mit dem Ideal des Selbstdenkens (Kap. 1) und jener Richtung des moralischen Gutseins, bei der es um die Unabhängigkeit von Leidenschaften oder Bedürfnissen und die Selbstbestimmung geht (Kap. 3.3). Das Ideal der Vernunft hat ebenso enge Verbindungen zum Ideal der Selbstbestimmung (Kap. 11). Charakteristisch für Vernunft ist es auch, dass unser vernünftiges, d.h. freies und kritisches Nachdenken seine eigenen Grenzen immer wieder wahrnimmt, in Frage stellt und so diese Grenzen denkend überschreitet. Ein Beispiel: Das kritische Entlarven scheinbarer Wahrheiten ist wichtig – doch es kann auch zur Pose werden, wenn es andere allzu sehr belehrt. Also wird das Kritisieren durch Vernunft überschritten in Richtung eines bewusst zugelassenen Ernstes (Kap. 13.2). Der kritische Blick auf die eigenen Grenzen ist Teil der Vernunft und macht diese so attraktiv. Hier kann es auch um prinzipielle Grenzen des sicheren Wissens gehen. Dann wird das Wissen durch Vernunft überschritten in Richtung der Weisheit (Kap. 4).

      Doch die laufende Selbstkritik der Vernunft geht sogar so weit, dass Vernunft sich selbst fragt, ob es vielleicht zu ihrem Kern gehört, anderes auszuschließen: kulturell Fremdes (Kap. 12), Gefühle, Leiblichkeit oder das Weibliche, siehe BÖHME/BÖHME 1983.

      3 Lohnt es sich, moralisch gut zu sein? (Jonas, Levinas, Kant, Camus)

       Sieh hin und du weißt.

      HANS JONAS (1984, 235)

       Worum geht es?

      Ganz unabhängig davon, welches Fach Sie unterrichten, in der ein oder anderen Hinsicht fordern Sie Ihre Schüler:innen immer wieder dazu auf, gut zu handeln, das Gute zu tun, gut zu sein oder einfach, sich gut zu verhalten. Oft geht es dabei um den normalen Unterricht, z.B. möchten Sie von Ihren Lerngruppen, dass sie miteinander gerecht umgehen, dass sie sich gegenseitig helfen oder dass sie einander nicht die Unwahrheit sagen. Aber das Gute und das Gutsein ist mitunter auch ein eigenes Thema: in Ethik, Religion, Gemeinschaftskunde, Geschichte oder Deutsch, in Sport oder Fremdsprachen.

      Angesichts dieser täglichen Forderung, gut zu sein, fragen Ihre Schüler:innen eines Tages: Weshalb sollen wir eigentlich immer gut sein und uns moralisch richtig verhalten? Können Sie uns da einen einzigen wirklich zwingenden Grund nennen? Oder läuft es darauf hinaus, dass wir gehorchen, höflich sind und uns richtig benehmen? Ist das Gute einfach Erziehung? Jedenfalls funktionieren unser Leben und auch die Welt ganz anders. Dort geht es eher darum, stark oder clever zu sein – und das ist dann ‚gut‘. Wie können Sie auf solche Fragen antworten? Genauer geht es um Folgendes:

       Wenn wir ein ‚gutes Leben‘ führen – gehört es dann zwingend dazu, dass wir moralisch gut sind?

       Wie können wir philosophisch begründen, dass wir moralisch gut sein sollen, obwohl die Welt ganz anders funktioniert?

       Wenn das Gute ein Bildungsziel ist: wie können wir dafür motivieren?

      3.1 Das gute Leben und die Unterscheidung zwischen dem für uns Guten und dem an sich Guten

      Gut leben – heißt das auch: moralisch gut? Offensichtlich gibt es das Gute als etwas, das in unserem eigenen Interesse liegt – und neben diesem Guten gibt es so etwas wie das Gute selbst, also das Gute unabhängig von unseren eigenen Interessen. Leicht lässt sich diese Unterscheidung am Begriff des guten Lebens erklären. Das gute Leben, das wir uns alle wünschen, ist ein Leben, in dem wir Glück, Zufriedenheit und Sinn erfahren. Meist geht es um das Gute für uns. Wie kann ich mein Leben für mich selbst günstig einrichten? Wo sollte ich auf meinen Vorteil achten, wo kann ich etwas für mich tun? Allzu restriktive moralische Vorschriften und allzu überzogene und anstrengende ethische Ideale könnten dem eigenen guten Leben durchaus abträglich sein.

      Gut leben – ja, das heißt auch: moralisch gut! Andererseits ist uns auch klar, dass etwa sehr ungerechte Verhältnisse, in denen wir gesamtgesellschaftlich leben, unser gutes Leben verderben, selbst wenn wir selbst nicht darunter zu leiden haben. Offensichtlich wollen wir in unserem guten Leben auch in einer guten Welt leben, es geht uns nicht nur um unseren Vorteil. Hinzukommt, dass wir aus Erfahrung wissen, wie beglückend es sein kann, Gutes zu tun: Geben ist seliger als nehmen. Auch das gute Gewissen ist hier wichtig. Zwar wollen wir uns nicht durch allzu äußerliche oder altmodische moralische Ansprüche ein schlechtes Gewissen machen lassen. Doch wir spüren andererseits, dass wir ein schlechtes Gewissen haben, wenn andere unter uns leiden müssen, etwa wenn wir andere verletzt haben. Echte Schuldgefühle passen nicht zu unserem Wunsch nach einem guten Leben. Das Gute selbst gehört zu unserem guten Leben. Nicht nur unsere Freuden und unser Vorteil, für die wir clever sorgen.

      Was genau bedeutet ‚gut‘? Die Frage Why be moral? ist eine klassische Frage der philosophischen Ethik (Bayertz


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