Bildungsphilosophie für den Unterricht. Philipp Thomas

Bildungsphilosophie für den Unterricht - Philipp Thomas


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der Wahrheitssuche dadurch unterscheiden, dass wir es als instrumentelles, also als zweckgerichtetes Argumentieren bezeichnen.

      Wahrheit versus Interesse. Was genau unterscheidet die Wahrheitssuche mit der Tugend der intellektuellen Rechtschaffenheit (Weber) einerseits (und für diese wollen Sie Ihre Schüler:innen begeistern) und andererseits das zweckgerichtete Argumentieren? Hier stoßen wir wieder auf die moderne Einsicht ins Nichtwissen. Nichtwissen im prinzipiellen Sinn behandelt das Kapitel 4 (Kant: Erkenntnistheorie). Hier ist mit Nichtwissen dagegen gemeint: Eine Generation kann nicht für die nächste entscheiden (s.o.; Kant: Was ist Aufklärung?). Während wir bei der intellektuell redlichen Wahrheitssuche die Wahrheit noch nicht kennen, sondern sie in der Auseinandersetzung mit anderen suchen und ihr näher kommen wollen, scheint in der instrumentellen Vernunft die ‚Wahrheit‘ schon bekannt zu sein und soll nun von ihren Vertreter:innen argumentativ durchgesetzt werden. Oft ist diese ‚Wahrheit‘ eine Art Interesse. Beim Ethos der Wahrheitssuche, die gewissermaßen stets ‚auf dem Weg‘ ist, sagen wir sinngemäß: Dies ist mein Argument, ich habe versucht, es sehr stark und überzeugend zu machen. Aber vielleicht habt Ihr ein besseres Argument, das mich überzeugen könnte? Dann werde ich es akzeptieren. Im Rahmen des zweckgerichteten Argumentierens dagegen bedienen wir uns einer ganz anderen Argumentation und Kommunikation, man kann sie persuasive (überredende) Kommunikation nennen. Hier versuchen wir, unser Gegenüber von einer ‚Wahrheit‘ zu überzeugen, die für uns schon feststeht. Wir sind nicht mehr offen, weil wir von einem vermeintlichen Wissen ausgehen und nicht, wie bei der Wahrheitssuche, vom Nichtwissen.

      Persuasives Argumentieren. Persuasiv kommunizieren wir zum Beispiel, wenn wir etwas verkaufen wollen, sogar, wenn wir uns selbst sozusagen ‚verkaufen‘ wollen, etwa wenn wir flirten (Schönbach 2019). Auch wenn wir zum Beispiel ein Team führen müssen, werden wir eher persuasiv kommunizieren und argumentieren und meist im Dienste bestimmter Interessen sprechen (Schönbach 2019). Diese Interessen und Ziele können durchaus legitim sein. Entscheidend ist, dass wir, anders als beim Ethos der Wahrheitssuche, in der persuasiven Argumentation schon am Ziel sind. Zuerst steht fest, was richtig ist, zuerst ist klar, dass wir bestimmte Interessen durchsetzen möchten. Dann suchen wir die richtigen Argumente dazu und versuchen, die anderen von unserem Standpunkt, also von unserem Ziel, unserem Interesse, zu überzeugen.

      Was soll die Jugend lernen? Beim Ethos der Wahrheitssuche dagegen sind wir keinem Interesse verpflichtet, sondern allein der Wahrheit, konkret der bestmöglichen Antwort auf eine offene Frage. Selbst wenn diese Antwort für uns unbequem sein sollte und unseren Interessen im Extremfall sogar zuwiderläuft: Das Argumentieren wird nicht in den Dienst von Interessen, sondern in den Dienst eines Zwangs des besseren Arguments gestellt, in den Dienst der bestmöglichen Lösung. Schauen Sie von hieraus wieder zurück auf die Fragen Ihrer Schüler:innen. Jetzt können Sie genauer sagen, was es ist, dass die junge Generation lernen soll. Zunächst: Es geht nicht einfach um die Abfrage privater Meinungen, sondern um das Argumentieren und Begründen. Die junge Generation soll das Selbstdenken und das Argumentieren nicht im Sinne der geschickten Durchsetzung eigener Interessen lernen. Sondern es kommt darauf an, dass sie eingeführt wird in das Ethos der Wahrheitssuche. Dass sie lernt, im Dienste von Lösungen zu argumentieren, welche es nicht schon gibt.

      Kulturelle Werte. Über dem Kapitel Einführung steht das Zitat von Häuptling Seattle. Er spüre nicht, so der Indianerhäuptling, was der weiße Mann seinen Kindern an langen Winterabenden erzähle. Das Ethos der Wahrheitssuche und das Selbstdenken sind Werte – und Beispiele für solche Erzählungen.

      Argumentieren im Dienste der Wahrheitssuche kennt die Wahrheit noch nicht und unterwirft sich dem Zwang des besseren Arguments. Persuasives Argumentieren kennt die ‚Wahrheit‘ bereits (meist: eigene Interessen) und sucht nach dazu passenden Argumenten so lange, bis die anderen ‚überzeugt‘ sind.

       Ihre Antwort auf die Frage Ihrer Schüler:innen:

      Weshalb soll ich lernen, selbst zu urteilen und zu denken? Steht nicht schon fest, was richtig und was falsch ist? So könnten Sie antworten:

       Unsere Generation kann für Eure nicht einfach alles entscheiden. Wir können Euch aber das Selbstdenken und Argumentieren beibringen.

       Das ist nötig, weil die besten Lösungen für neue Probleme nur im Austausch der besten Argumente gefunden werden können. Dazu ist auch Pluralität wichtig, dass es also eine Art ‚Pool‘ verschiedener Ansichten gibt.

       Irgendwann, wenn wir Lehrkräfte alt geworden sind, müssen wir mit einem guten Gefühl ‚den Staffelstab übergeben‘ können an Euch.

       Selbstdenken und Selbstbestimmung ist für unsere Kultur der Moderne auch ein Wert an sich, ja, Euer Menschenrecht.

       Begründen und Argumentieren bedeutet mehr als andere zu überreden. Es glaubt nicht, die Wahrheit schon zu besitzen, sondern folgt dem Ethos der gemeinsamen Wahrheitssuche.

      Wenn Sie sich noch weiter interessieren

      Als Einführung in das formal richtige Argumentieren siehe SCHLEICHERT 2004. Interessant ist besonders der Versuch des Autors, richtige Argumentationsstrategien im Umgang mit fundamentalistischen Positionen zu finden. Für Persuasive Kommunikation siehe SCHÖNBACH 2019.

      Das Ethos der modernen Wahrheitssuche hat insbesondere auch KARL POPPER beschrieben, siehe POPPER 2013 für den Bereich Wissenschaft und POPPER 1992 für den Bereich Gesellschaft.

      Dass Wissenschaft völlig frei von Werturteilen sein soll, wie MAX WEBER forderte, ist auch bestritten worden und hat zum sogenannten Werturteilsstreit und Positivismusstreit geführt, siehe einführend Wikipedia.

      2 Ist Vernunft wirklich so wichtig? (Aristoteles, Epikur, Epiktet)

       Die Vernunft nämlich ist das Beste in uns.

      ARISTOTELES

      (Nikomachische Ethik, 1177a19)

       Worum geht es?

      Was ist der Mensch? Im Fach Biologie heißt es, Tiere seien durch ihre Instinkte gesteuert, nur der Mensch habe Vernunft. In Geschichte werden besondere Zeitalter der Vernunft gepriesen, etwas die griechische Antike oder die moderne Aufklärung. In Fächern wie Gemeinschaftskunde oder Ethik präsentieren Sie Ihren Schüler:innen anschauliche Fälle, in denen es um schwierige Entscheidungen geht. Und die vernünftige Lösung scheint immer die bessere Lösung zu sein. Schließlich: In Deutsch oder den Fremdsprachen lernen Ihre Schüler:innen in der Literatur Menschen kennen, die durch Vernunft ihre Schwächen oder ihre Leidenschaften überwinden und vernünftig und zugleich besonders gut handeln. Überall scheint zu gelten: Auf die Vernunft kommt es an!

      Irgendwann wird Ihren Schüler:innen das zu einseitig. Sie sagen: Wir lernen immer, dass alles Emotionale unwichtig und erst die vernünftigen Gedanken gut sind. Dabei funktioniert die Welt doch ganz anders. Es geht um Spaß und Lust, auch mal um Lust an der Rache! Die Schule soll uns auf das Leben vorbereiten – und uns nicht in irgendwelche höheren Welten führen, die uns nachher doch nichts nützen. Weshalb sollen wir immer vernünftig sein? Ist Vernunft wirklich so wichtig? In diesem Kapitel erfahren Sie, wie Sie auf solche Fragen Ihrer Schüler:innen antworten können. Genauer geht es um Folgendes:

       Woher kommt diese Traditon und was ist von ihr zu halten, dass die Vernunft immer das Höhere im Vergleich zu allem anderen ist?

       Wie können Sie Ihren Schüler:innen anschaulich machen, dass die Vernunft tatsächlich etwas Großes ist, auf das wir stolz sein können und das wir entwickeln sollen – dass es aber auch noch anderes Großes gibt?

       Wie können Sie Ihre Schüler:innen ganz konkret für das Vernünftigsein motivieren?

      2.1 Aristoteles


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