Bildungsphilosophie für den Unterricht. Philipp Thomas

Bildungsphilosophie für den Unterricht - Philipp Thomas


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Jugendlichen, welche diesen ein gutes berufliches und privates Leben ermöglichen soll. Zugleich sollen Sie auch in der Lage sein, allgemeine Werte und Ziele zu vermitteln. Und das bedeutet, diese ins Bewusstsein zu heben, sie immer wieder neu zu diskutieren, zu kritisieren und zu verlebendigen – und dabei vielleicht auch neu zu denken. Was soll gelten? Was ist das Gute? In welche Richtung soll es weitergehen? Diese Fragen sind der Wahrheit verpflichtet. In Ihrem Beruf geht es nicht nur um Methodik, nicht nur um Praxis. Sie fragen nicht nur: Wie bringe ich meine Schüler:innen am besten von A nach B, von der noch nicht vorhandenen Kompetenz zur vorhandenen Kompetenz? Sondern Sie fragen auch: Weshalb überhaupt diese oder jene Kompetenz, weshalb ist sie das richtige Ziel, weshalb soll es gelten, weshalb erscheint es uns als wahr? Deshalb studieren Sie an Universitäten und Hochschulen.

      Dieses Buch vermittelt Ihnen die Kompetenz, auf große Fragen Ihrer Schüler:innen reflektiert zu antworten. Als Lehrperson haben Sie neben Ihrem Fachunterricht auch die Aufgabe, kritisch in die Kultur als Ganzes einzuführen: in ihre Werte und großen Themen. Sie studieren an Universitäten und Hochschulen, deren Forschung und Lehre frei ist – im Dienste der Wahrheit.

       Weshalb Bildungsphilosophie?

      Warum muss ich das alles wissen? Ich will doch nur Lehrer:in werden!

       Bildungsphilosophie gehört zu Ihrer Professionalität als Lehrer:innen. Sie hilft Ihnen in konkreten Unterrichtssituationen: Wenn Ihre Schüler:innen kritisch nachfragen, etwa nach bestimmten Werten unserer Kultur, dann können Sie Orientierung geben und den Jugendlichen neue Türen öffnen.

       Als Expert:innen für Bildung müssen Sie auch auf diesem Gebiet kompetent sein – durch ein spezielles und vertieftes Wissen vom Allgemeinen.

      Wenn Sie sich noch weiter interessieren

      Zwei sehr gute und vertiefte Einführungen in die Bildungstheorie und Bildungsphilosophie finden Sie in REICHENBACH 2018 (b) und RIEGER-LADICH 2020. Wenn Sie sich für das Ethos von Lehrpersonen interessieren, also für die moralische oder sittliche Gesinnung, die zu Ihrer Profession gehört, bieten CRAMER/OSER 2019 einen guten Überblick.

      Um die Frage wichtiger Werte unserer Kultur und weshalb wir sie immer wieder formulieren, diskutieren und auch verteidigen sollten, geht es explizit in Kapitel 11. Andere Kapitel beschäftigen sich mit allgemeinen Bildungszielen wie Selbstdenken (Kap. 1), Selbstwerdung (Kap. 7) oder verschiedenen Wissenstypen (Kap. 4–6). Doch auch diese Themen sind Antworten unserer Kultur auf die Frage, welche Ziele letztlich richtig sind und worauf es uns eigentlich ankommt.

      1 Weshalb sollen wir lernen, selbst zu urteilen und zu denken? (Kant, Weber)

       Es ist so bequem, unmündig zu sein.

      IMMANUEL KANT (1923, 35)

       Worum geht es?

      Zwar diskutieren Ihre Schüler:innen gern – doch irgendwann langweilt es sie auch, dass sie laufend dazu aufgefordert werden, sich eine eigene Meinung und ein eigenes Urteil zu bilden. Sie als Lehrperson geben sich ja nicht zufrieden damit, einfach die Meinung der Schüler:innen abzufragen wie in einer Radiomoderation. Sondern Sie haken immer wieder nach und beharren auf guten Argumenten. In dieser Situation äußern ihre Schüler:innen einen gewissen Unmut. Sie fragen: Können Sie uns nicht einfach sagen, wie es richtig ist? Dieses ständige Pro und Kontra, dieses ewige Argumentieren und das ‚eigene Urteil‘! Und laufend heißt es, dass es nicht nur einen, sondern dass es verschiedene Standpunkte gibt. In diesem Kapitel erfahren Sie, wie Sie auf solche Äußerungen Ihrer Schüler:innen reagieren können. Genauer geht es um Folgendes:

       Weshalb ist das Selbstdenken für unsere Kultur ein so hoher Wert, weshalb ist es sogar überlebenswichtig?

       Weshalb sehen einige (z.B. Immanuel Kant) das Selbstdenken als eine Art Menschenrecht?

       Was bedeutet Ethos der Wissenschaft und der Wahrheitssuche (Max Weber) und was können Ihre Schüler:innen von diesem Ethos lernen?

       Wie können Sie Ihre Schüler:innen für das Selbstdenken motivieren?

      1.1 Wir brauchen junge Menschen, die selbst denken können, denn die Wahrheit ist nie fertig

      Ein Generationenvertrag. Es gehört zum Kernbestand unserer modernen Kultur, dass es nur ganz wenige immer schon bestehende und in alle Ewigkeit geltende Wahrheiten gibt. Eine Generation kann nicht einfach für die nächste entscheiden, was für diese unzweifelhaft richtig sein soll. Sie kann nicht für sie entscheiden – und doch kann die ältere etwas für die jüngere Generation tun: Sie kann ihr das Selbstdenken und Argumentieren beibringen. Und sie muss für die nächste Generation den Rahmen dafür sichern: die Freiheit, sich immer weiter eine eigene Meinung bilden zu können und auch zu dürfen. Wir brauchen junge Menschen, die es gelernt und trainiert haben, selbst zu denken. Dies ergibt sich unter anderem aus dem modernen Bewusstsein eines Nichtwissens.

      Hintergrund: Moderne bezeichnet hier nicht die gesamte Zeit seit dem Mittelalter und auch nicht die Moderne in der Kunst und Literatur des 20. Jahrhunderts, sondern die Zeit seit der Aufklärung (18. Jahrhundert) und der industriellen Revolution (19. Jahrhundert) bis heute.

      Traditionelle Wahrheitsgewissheit. Die moderne Kultur hat sich von etwas verabschiedet, nämlich von einer bestimmten Form von Wahrheitsgewissheit. Solch eine Wahrheitsgewissheit ergibt sich aus einer geoffenbarten transzendenten Wahrheit, wie sie etwa in der Bibel als einer Heiligen Schrift vorliegt. Die mittelalterliche Gesellschaft, die noch viel stärker traditionell und religiös geprägt war, kannte in weit geringerem Maße die Anforderung, dass die Wahrheit immer erst mühsam gefunden werden muss. Stattdessen gab es eine traditionelle und geoffenbarte Wahrheit, die bezogen auf die Herausforderungen einer Gegenwart lediglich neu ausgelegt werden musste. Eine andere Quelle absoluter Wahrheit neben der religiösen war die Institution der erblichen Monarchie. Dass genau diese eine Herrscherfamilie über ein Land herrschen sollte, das schien unantastbar. Auch die Hierarchie der Gesellschaft wurde nicht angezweifelt. Herrschaft und Struktur der Gesellschaft wurden oft genug sogar zurückgeführt auf einen quasi göttlichen Ursprung.

      Was ist mit Nichtwissen gemeint? Nichtwissen in einem sehr grundsätzlichen Sinn (Wissen ist prinzipiell begrenzt) wird in Kapitel 4 behandelt. Hier in Kapitel 1 geht es eher um das Bewusstsein der modernen Kultur, dass das traditionelle (religiöse, überlieferte etc.) Wissen nie ausreicht für die sich wandelnden Probleme. Laufend muss neues Wissen hervorgebracht werden. Auch dies ist ein Bewusstsein von Nichtwissen. Die moderne Gesellschaft, in der diese ältere Wahrheitsgewissheit zurücktritt, wird sich einer bestimmten Dynamik bewusst. Das ist die neue Idee eines laufenden historischen Wandels. Dieser umfasst alle Bereiche, nicht nur die Gesellschaft, sondern etwa auch die Wissenschaft. Denn diese gelangt immer wieder zu neuen Erkenntnissen. Schließlich betrifft die laufende Erneuerung auch dasjenige, was jeweils als die richtige Lösung für die anstehenden Probleme einer Zeit gesehen wird, also die sozialen und politischen Lösungsversuche. Doch mehr noch, die Dynamik umfasst sogar die Probleme und Herausforderungen selbst, auch diese befinden sich in ständiger Entwicklung, sie bleiben nicht einfach immer die alten. Das ist mit dem Begriff Nichtwissen gemeint: ein Bewusstsein für lauter noch nicht gelöste Probleme und die Erfahrung, dass Wissen nicht einfach vorhanden ist, sondern dass es erst gesucht und dass es auch immer wieder erneuert werden muss. Und diese neue Situation braucht die Fähigkeit der neuen Generationen, selbst denken und selbst Lösungen finden zu können.

      Neue ethische Fragen. Wissenschaft und Technik verändern ihrerseits unsere Welt und durch diese Veränderung entstehen neue Fragestellungen und auch neue ethische Herausforderungen und Probleme, die es früher noch gar nicht geben konnte. Eine neue Technik in der Medizin etwa könnte so teuer sein, dass ungewiss ist, ob sie überhaupt allen Menschen zugutekommen kann. Wenn sie nur für eine begrenzte Anzahl


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