Bildungsphilosophie für den Unterricht. Philipp Thomas

Bildungsphilosophie für den Unterricht - Philipp Thomas


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Weshalb hat Vernunft in unserer Tradition einen so hohen Stellenwert? Dies lässt sich gut anhand eines einzigen Werkes verständlich machen, nämlich der Nikomachischen Ethik des Aristoteles (Kap. 2.1), ergänzt durch Gedanken anderer Philosophen, nämlich Epikur (Kap. 2.2) und Epiktet (Kap. 2.3). Diese aus der griechischen Antike stammenden Gedanken sind für unsere Kultur überaus bedeutend und einflussreich. Um gleich anzudeuten, wohin die Reise geht: Bei der Vernunft geht es um so etwas wie Unabhängigkeitskompetenz. Ja, die Welt funktioniert nicht unbedingt nach Prinzipien der Vernunft und dies gilt auch für uns selbst. Unser Leben ist zunächst einmal nicht vernünftig. Und gerade deshalb ist es gut, über die Kompetenz zu verfügen, immer wieder frei zu werden von den ‚unvernünftigen‘ Kräften und Leidenschaften, nämlich durch die Kraft der Vernunft.

      Hintergrund: Vernunft, das ist hier kein anthropologisch-beschreibender Begriff, er bezeichnet nicht das Wesen des Menschen. Er bezeichnet auch nicht einfach unsere kognitiven Fähigkeiten, dafür sagt man eher Verstand. Sondern hier geht es um die Fähigkeit einer bestimmten Beziehung zu uns selbst, z.B., dass wir uns durch Vernunft immer wieder befreien können von unseren Ängsten oder Antrieben.

      Die Nikomachische Ethik. Aristoteles (384–322) war Schüler Platons in dessen Akademie in Athen, wurde später Lehrer Alexander des Großen in Makedonien, danach lehrte und forschte er in Athen. Aristoteles ist durch seine Werke in der Philosophie bedeutend und er wurde von der christlichen und der islamischen Theologie rezipiert. Zugleich aber ist Aristoteles ebenso bedeutend in der Wissenschaft.

      Hintergrund: Logik: Wie muss man formal richtig argumentieren? Rhetorik: Wie kann man überzeugend reden? Metaphysik: Aus was besteht die Welt im Innersten?

      Ob Logik oder Rhetorik, ob Metaphysik oder Staatslehre, ob Theorie der Dichtkunst oder Naturwissenschaft, Aristoteles hat in all diesen Bereichen Werke verfasst, die für Jahrhunderte einen sehr großen Einfluss gehabt haben. Bis heute erforschen weltweit Philosoph:innen sein Denken und versuchen es weiterzuentwickeln. Ein besonders bedeutendes Werk ist seine Nikomachische Ethik, deren Name sich vielleicht auf seinen Sohn bezieht, der Nikomachos hieß. Viele Themen sind es, die Aristoteles in dieser Ethik behandelt, sie reichen von der Frage nach dem Glück, der Bestimmung der Tugenden, dem Nachdenken über Staatsformen und über die Bedeutung der Freundschaft bis hin zur Frage, welche Lebensform für den Menschen als die höchste gelten kann. Und hier wird Aristoteles’ Antwort sein, dass der Mensch dann sein eigentliches Ziel erreicht, wenn er sein Leben nach der Vernunft ausrichtet. Wie ist dies gemeint, was hat das mit dem gerade verwendeten Begriff Unabhängigkeitskompetenz zu tun und wie kann uns Aristoteles’ Aussage weiterhelfen, das beste Leben sei das gemäß der Vernunft geführte?

      Worin besteht das wahre Leben? Schauen wir Aristoteles dabei zu, wie er in seiner Nikomachischen Ethik nach dem richtigen Leben fragt und wie er das Leben sucht, das uns Menschen eigentlich angemessen ist. Am Ende wird seine Antwort sein, dass die Eudaimonia, meist übersetzt als Glückseligkeit, das höchste Ziel des menschlichen Lebens ist. Und wenn wir ihn fragen, in welchem Zustand oder in welcher Tätigkeit genau die Glückseligkeit, die Eudaimonia, besteht, dann wird Aristoteles antworten: Glückseligkeit besteht für uns Menschen nicht darin, worin wir sie vermuten, nämlich in körperlichem Genuss oder in Reichtum oder in Erfolg und sozialer Anerkennung, auch nicht in großer Macht oder großem Einfluss – sondern Glückseligkeit besteht darin, dass wir uns selbst durch Vernunft bestimmen. Aber gehen wir Schritt für Schritt vor und verfolgen wir mit, wie Aristoteles zu diesem überraschenden Ergebnis kommt.

      Schritt Eins: Finde Handlungen, die kein äußeres Ziel mehr haben, sondern sich selbst genügen. Aristoteles schickt uns auf die Suche nach derjenigen Tätigkeit, die ihren Zweck in sich selbst hat, die Ziel und Ende all unseres Handelns ist und dieses Ziel wird zunächst noch ganz formal bezeichnet als Eudaimonia, als Glückseligkeit.

      […] Es zeigt sich aber ein Unterschied in den Zielen: denn die einen sind Tätigkeiten, die andern sind bestimmte Werke außer ihnen. Wo es Ziele außerhalb der Handlungen gibt, da sind ihrer Natur nach die Werke besser als die Tätigkeiten. […] Wenn es aber ein Ziel des Handelns gibt, das wir um seiner selbst willen wollen und das andere um seinetwillen; wenn wir also nicht alles um eines andern willen erstreben […], dann ist es klar, daß jenes das Gute und das Beste ist. (Aristoteles 1986, 55)

      Praktisch alles tun wir nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zu einem der Handlung äußeren Zweck. So studieren Sie nicht als Selbstzweck, sondern um später einen Beruf ausüben zu können, um dabei Geld zu verdienen, um davon wiederum Ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Denkt man so über das eigene Leben nach, dann stellt sich tatsächlich bald die Frage nach dem Sinn des Ganzen: Wozu sollen wir denn unseren Lebensunterhalt verdienen? Um Kinder zu bekommen und diesen zu ermöglichen aufzuwachsen? Oder für teure Urlaube und Hobbys? Und der Sinn der Existenz unserer Kinder? Auf diese Weise ließe sich immer weiter fragen. Die philosophische Analyse menschlicher Handlungen in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles durchbricht diese trüben und endlosen Gedanken, denen früher oder später alles sinnlos vorkommt. „Fast alles begehren wir als Mittel, ausgenommen die Glückseligkeit. Denn sie ist das Ziel“ (Aristoteles 1986, 294).

      Tugendhaftes Handeln ist nicht auf äußere Zwecke bezogen, sondern genügt sich selbst. Doch Handlungen, die wir nicht um eines äußeren Ziels, sondern um ihrer selbst willen tun, gibt es einige – die Glückseligkeit ist nur deren höchste. Wir sind im Flow, sagt man in der Psychologie, wenn wir in einer Handlung ganz aufgehen. Dies erinnert an Aristoteles’ selbstzweckhafte Handlungen. Aber Achtung: Eudaimonia ist dem Leben gemäß der Vernunft vorbehalten, also nicht einfach gleichbedeutend mit Flow. Daher: der Reihe nach. Aristoteles beschreibt verschiedene Handlungen, die wir nicht als Mittel, sondern als Zweck tun. Solche Handlungen sind Kandidat:innen für den Sinn in unserem Leben. Ein Beispiel für sich selbst genügende Handlungen sind tugendhafte Handlungen. Bei denen wissen wir, dass unser Handeln einfach so und so sein soll, hier fragen wir nicht nach einem äußeren Sinn, einem Zweck.

      Und an sich begehrenswert sind die Tätigkeiten, bei denen man nichts weiter sucht als die Tätigkeit selbst. Diesen Charakter scheinen die tugendgemäßen Handlungen zu haben, da es an sich begehrenswert ist, schön und tugendhaft zu handeln. (Aristoteles 1986, 293)

      Wir wissen, dass es sich einfach gehört, dass wir uns tugendhaft verhalten. Ein sehr einfaches Beispiel, die Tugend der Gastfreundschaft: Stellen Sie sich vor, Sie halten Ihr Geld zusammen, Sie lieben es, sparsam zu sein. Da kündigen sich spontan Gäste an. Plötzlich fällt es Ihnen leicht, etwas Gutes zu Essen oder zu Trinken zu besorgen und dafür auch einiges an Geld auszugeben. Denn das gehört sich so. Und das meinen Sie nicht nur in einem äußerlichen Sinn und Sie schielen auch nicht auf einen Nutzen für sich selbst, zumindest nicht, wenn Ihnen an Ihren Gästen wirklich etwas liegt. Sondern die Gastfreundschaft macht Ihnen Freude, ein Stück Leben geht hier gewissermaßen auf wie eine Blüte und kommt an sein Ziel.

      Ein Stück Lebenssinn: die selbstzweckhafte Handlung. Gehen Sie in sich und fragen sich genauer, was Sie damit meinen, wenn Sie sagen, es gehöre sich, Gäste gut zu empfangen und zu bewirten. Vielleicht denken Sie dann an das Folgende. Mit dieser tugendhaften Handlung, so könnten Sie es beschreiben, identifiziere ich mich maximal, in ihr komme ich gewissermaßen selbst vor. An dieser kleinen Stelle meines Lebens erfüllt sich dieses Leben, hier scheint alles fraglos, hier ist die Kette durchbrochen, in der jede Handlung im Dienste von etwas anderem getan wird. Meine Gäste liebevoll und aufwändig zu empfangen und zu bewirten, das ist ein Stück Lebenssinn. Sie könnten es auch so ausdrücken: Bei tugendhaften Handlungen müssen wir nicht weiter fragen, wozu das gut ist, sondern diese Handlungen tragen ihren Sinn, ihren Zweck schon in sich. Genau das möchte Aristoteles damit sagen, dass wir zwar fast alles als Mittel zu einem anderen Zweck tun, dass aber tugendhafte Handlungen selbstzweckhafte Handlungen sind.

      Schritt zwei: Finde innerhalb des tugendhaften Handelns die höchste Form, finde die höchste Tugend. Im Feld der selbstzweckhaften Handlungen, also der tugendhaften, müssen wir nun die oberste dieser Handlungen suchen und das ist dann die Eudaimonia, die Glückseligkeit. Diese Suche kann dadurch gelingen, dass wir fragen, was die höchste und eigentliche Tugend des Menschen ist oder auch: die dem Menschen angemessenste. Es gibt für Aristoteles also eine gewisse Hierarchie


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