Bildungsphilosophie für den Unterricht. Philipp Thomas

Bildungsphilosophie für den Unterricht - Philipp Thomas


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lange Lebenserwartung haben? Oder ist es gerecht, sie den Kräften des Marktes zu überlassen, sodass zahlungskräftige Patient:innen zum Zuge kommen? Neue Landwirtschafts- oder Kommunikationstechniken könnten Folgen haben, die noch weitgehend unbekannt sind oder aber, zum Beispiel als Gefährdung der natürlichen Ressourcen, die Gesellschaft definitiv vor neue Probleme stellen. Wieder entstehen neben neuen technischen auch neue ethische Fragen.

      Wandel der Ansichten und Überzeugungen. Die Dynamik ist sogar noch umfassender. Sie betrifft auch die allgemeinen und vorherrschenden Ansichten darüber, was als sinnvolles und gutes Leben gelten soll; ja sogar, was als ethisch gut und ethisch schlecht bezeichnet werden muss. Nach einigen Jahrzehnten haben sich Ansichten in unserer Gesellschaft schon wieder leicht oder sogar gravierend geändert. Als Beispiele lassen sich das Verhältnis der Geschlechter nennen oder die Form, die Struktur und die Bedeutung der Familie. Was hier Norm und was Normalität ist, diese Ansichten sind im Wandel.

      Selbstdenken ist überlebenswichtig. In dieser Lage, also mitten in einer grundsätzlichen Dynamik, welche Veränderungen in den meisten Bereichen mit sich bringt, braucht die Gesellschaft weniger junge Menschen, deren Kompetenz darin besteht, dass sie alte Lösungen und alte Entscheidungen über Richtig und Falsch kennen und vertreten, ohne diese weiter zu hinterfragen. Sondern die Gesellschaft braucht in dieser Lage Menschen, welche die Kompetenz mitbringen, durch kluge Informationsbeschaffung und Auswertung dieser Informationen sowie durch kluge Argumentation zu einem eigenständigen Urteil in den neu sich ergebenden Herausforderungen gelangen zu können. Hinzukommen muss die Fähigkeit, mit einer gewissen Pluralität von Meinungen umgehen zu können, das heißt zunächst einfach: daran gewöhnt zu sein, dass es verschiedene Ansätze zur Lösung von Problemen gibt.

      Hintergrund: Pluralistisch nennt man eine Gesellschaft, die ganz unterschiedliche Individuen und Gruppen und ihre Ansichten toleriert, ja diese Pluralität sogar wertschätzt: Der Wettbewerb der Meinungen kann die Gesellschaft weiterbringen.

      Bildung in der sich verändernden Welt. Die moderne Gesellschaft muss also in ihrem Bildungsbereich für vieles Sorge tragen. Sie braucht etwa immer genügend Menschen, welche die Technik wissenschaftlich weiterentwickeln können. Sie braucht ebenso immer genügend Menschen, die über hervorragende sprachliche, kulturelle oder politische Kompetenzen verfügen, um neue Aufgaben in der sich globalisierenden Welt anzugehen. Doch über eine Fähigkeit sollten möglichst alle jungen Menschen verfügen, nämlich über die Fähigkeit, selbst zu denken, selbstständig sich ein Bild der Herausforderungen zu verschaffen und zu einem eigenen Urteil zu kommen. Denn nur so können dann in einem fruchtbaren Streit um die besten Lösungen nach und nach und immer wieder neu auch tatsächlich sehr gute Lösungen gefunden werden und sich durchsetzen – Lösungen, die nicht Teil einer absoluten Wahrheit sind, Lösungen, die es nicht einfach schon gibt, sondern die in einem pluralen System gefunden werden müssen.

      Wir müssen jungen Menschen das Selbstdenken beibringen, denn in der modernen Kultur kann eine Generation nicht für die nächste schon wissen, welche neuen Herausforderungen es geben wird und welche Lösungen richtig sein werden.

      1.2 Selbstdenken ist ein Menschenrecht (Kant)

      Selbstdenken nicht nur aus pragmatischen Gründen. Der Denker der Aufklärung, Immanuel Kant, sieht aber noch einen anderen Grund dafür, dass jede Generation selbst und immer wieder neu die Wahrheit suchen soll.

      Hintergrund: Aufklärung meint seit dem 18. Jahrhundert die Ablösung aus den alten Bindungen an die staatliche und kirchliche Obrigkeit, stattdessen setzt man auf laufende Fortschritte durch rationales Denken und Wissenschaft; starkes Bewusstsein von Freiheit und Menschenrechten (siehe Kap. 11.2).

      In der Aufklärung voranzuschreiten, so sagt Kant, das sei ein Menschenrecht. Exemplarisch lässt sich dieser Zusammenhang in Kants Schrift Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Von 1784 gut nachvollziehen.

      Ein Zeitalter kann sich nicht verbünden und darauf verschwören, das folgende in einen Zustand zu setzen, darin es ihm unmöglich werden muß, seine […] Erkenntnisse zu erweitern, von Irrthümern zu reinigen und überhaupt in der Aufklärung weiter zu schreiten. Das wäre ein Verbrechen wider die menschliche Natur, deren ursprüngliche Bestimmung gerade in diesem Fortschreiten besteht; und die Nachkommen sind also vollkommen dazu berechtigt, jene Beschlüsse, als unbefugter und frevelhafter Weise genommen, zu verwerfen. (Kant 1923, 39)

      Selbstdenken als Menschenrecht. Kant fragt sich selbst und damit uns, seine Leser:innen, ob nicht etwa eine oberste Versammlung von Expert:innen ein für alle Mal entscheiden könnte über die wichtigsten Fragen der Gesellschaft, um auf diese Weise tragfähige Antworten festzuschreiben? Kants Antwort ist eindeutig: Nein, dies sei auf keinen Fall möglich und solle auch nicht versucht werden.

      Hintergrund: Mehr als 150 Jahre später, in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen (1948) heißt es: Artikel 18: Jeder hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit […]. Artikel 19: Jeder hat das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung […] (https://de.wikipedia.org/wiki/Allgemeine_Erklärung_der_Menschenrechte, 19.07.2021).

      Welche Gründe nennt Kant für seine Ablehnung? Im Text lassen sich, so scheint mir, zwei verschiedene Gründe für die Ablehnung finden: Zum einen ist da, eher zwischen den Zeilen angedeutet, aber für den Forschrittsdenker Kant typisch, der eben ausführlich dargestellte pragmatische Grund. Aufgrund der Dynamisierung der modernen Gesellschaft kann eine Generation, wie geschildert, unmöglich ein für alle Mal für die nächste entscheiden. Der andere Grund, von Kant explizit vertreten, ist grundsätzlicher Natur. Es gehöre zu menschlichem Leben notwendig ein Recht, durch eigenes Nachdenken immer weiter voranzuschreiten. Dieses Recht leite sich sogar aus der Natur des Menschen ab. Kant behauptet also nicht weniger, als dass die Aufklärung und das Fortschreiten in der Aufklärung zum Menschsein selbst dazugehören. Es geht um ein Menschenrecht: das Recht auf Selbstdenken, auf Selbstbestimmung und auf den eigenen Fortschritt im Denken.

      Die Idee der Aufklärung: Bildung zum Selbstdenken ist notwendig, um ein Recht zu verwirklichen, welches der Mensch von Natur aus besitzt, nämlich das Recht auf Selbstdenken und Selbstbestimmung.

      1.3 Der Wahrheit verpflichtet. Das Ethos moderner Wissenschaft (Weber)

      Wahrheitssuche in der Scientific Community. In diesem Kapitel geht es um die moderne Wissenschaft und ihr Selbstverständnis. Der Zusammenhang zwischen Wissenschaft und Selbstdenken wird weiter unten klar werden. Zum Ethos (im Sinne von attitude oder Einstellung) der modernen Wissenschaft gehört es, einer objektiven oder auch intersubjektiven Wahrheit verpflichtet zu sein, welche niemand für sich allein herausfinden und besitzen kann. Seit Francis Bacon (1561–1626) entfernt sich die moderne Wissenschaft vom Vorbild des einzelnen genialen Forschers, seinen besonderen Ideen und Einfällen und seinem exklusiven Zugang zur Wahrheit.

      Hintergrund: Einiges am erfolgreichen Vorgehen der modernen Wissenschaft geht auf Francis Bacon zurück. Man solle nicht immer weiter Gründe dafür suchen, was man für wahr halte, sondern solle versuchen, es zu widerlegen. Denn dazu reiche ein einziges Gegenbeispiel. Auch sollten die Forschenden skeptisch gegenüber ihren Grundannahmen über die Welt bleiben, es könnten Vorurteile sein.

      Stattdessen wird die Wahrheitssuche auf viele Schultern verteilt. Eine Community der Forschenden, so die neue Idee, produziert Hypothesen und Forschungsergebnisse und stellt sie einander vor. Die gegenseitige Kritik an den Hypothesen und an den Ergebnissen garantiert ein möglichst objektives Wissen, aus dem alle subjektiven Anteile entfernt worden sind. Denn indem die einzelnen Forscher:innen und die einzelnen Arbeitsgruppen stets damit rechnen müssen, von den anderen, mit ihnen konkurrierenden Wissenschaftler:innen auch noch der kleinsten Fehler überführt zu werden, kommt es erst gar nicht zu Behauptungen, die nicht abgesichert sind.

      Die Forschung geht immer weiter. Prinzipiell ist diese Art und Weise,


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