Bildungsphilosophie für den Unterricht. Philipp Thomas

Bildungsphilosophie für den Unterricht - Philipp Thomas


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umfasst, all das Bedeutende, wofür das Leben lohnt, und all die großen, ewig ungelösten Fragen, die wir der nächsten Generation doch weitererzählen. Der indianische Häuptling Seattle sagt im Eingangszitat, dass er den weißen Mann nicht versteht, der im Amerika des 19. Jahrhunderts Land von ihm kaufen will. Er spürt immer nur Macht und Gier und Ausbeutung der Natur. Er spürt nicht, wofür das alles gut ist: Welche Hoffnungen und Visionen gibt der weiße Mann seinen Kindern weiter? Dies Ihren Schüler:innen zu erklären, auch das gehört zu Ihrer Aufgabe.

      Sie sollen Fachleute werden – auch für sehr allgemeine Fragen. Für die erste Aufgabe (für Ihr Fach begeistern) müssen Sie Expert:innen Ihrer Fächer werden. Für die zweite Aufgabe (Werbung für die Kultur als Ganzes) sollen Sie Fachleute für diese allgemeine Kulturbotschaftsaufgabe werden. Im Fachstudium erarbeiten Sie sich fachliches und fachdidaktisches Wissen. Außerdem erwerben Sie pädagogisch-psychologisches Wissen, z.B. über Themen wie Heterogenität oder Motivation. All dieses Wissen brauchen Sie für Ihren täglichen Unterricht. Doch daneben gibt es noch einen weiteren Bereich Ihrer Lehramtsausbildung und das ist die Bildungsphilosophie oder Bildungstheorie. Hier werden Sie Expert:innen für sehr allgemeine Fragen, die aber auch zur Bildung Ihrer Schüler:innen gehören und die hier, etwas vereinfacht, als Kulturbotschaftsaufgabe bezeichnet werden.

      Um welche Orientierungsfragen geht es? Und was heißt das, Ihre Schüler:innen in unsere Kultur einzuführen? Die Antwort fällt leichter, wenn wir zu den Flamenco-Kostümen zurückkehren. Angenommen, auch Sie würden später einen eigenen Unterrichtsraum bekommen, so wie damals meine Spanisch-Kollegin. Wie würden Sie diesen Raum einrichten und dekorieren, um für Ihr Fach zu begeistern? Als Geographielehrer:in würden Sie allerlei Landkarten und einen Globus haben, als Kunstlehrer:in vielleicht künstlerische Objekte. Doch wie würden Sie Ihren Raum für jene andere Aufgabe schmücken, nämlich die, Ihre Schüler:innen in die großen Orientierungsfragen unserer Kultur einzuführen? Wie können Sie das veranschaulichen, wovon unsere Kultur träumt und was ihr wichtig ist? Hier kommt dieses Buch ins Spiel. Um seine Aufgabe zu veranschaulichen, dient folgendes Bild: Sie könnten große Bilderrahmen aufhängen und in diese jeweils ein großes Thema schreiben. In einem stünde Selbstdenken!, in einem anderen Vernunft! In einem besonders großen Rahmen stünde Moralisch gut sein! und in einem besonders bunten Rahmen Durch Bildung man selbst werden!

      Wie soll ich diese Themen unterrichten? Vielleicht nicht so sehr als eigene Unterrichtsstunden. Orientierungsfragen gehen über Ihren Fachunterricht meist hinaus. Doch ‚zwischen den Zeilen‘ kommen diese großen Themen in Ihrer Arbeit mit den Lerngruppen laufend vor. Auch in Ihrem Verhalten, in dem, worauf Sie Wert legen und auch in den Hoffnungen und Visionen, die Sie Ihren Schüler:innen weitergeben. Daher die fiktiven Bilderrahmen. In einem stünde Ich weiß, dass ich nichts weiß, in einem anderen Die Werte unserer Kultur verlebendigen! und in einem besonders schönen stünde Herzensbildung. Jedes Orientierungsthema an der Wand Ihres fiktiven Unterrichtsraums ist ein Kapitel in diesem Buch. Und jedes Kapitel können Sie für die tägliche Unterrichtspraxis verwenden.

      Ihre Schüler:innen werden nicht gleich begeistert sein. Das waren die meiner früheren Spanisch-Kollegin auch nicht. O je, so mögen sie geklagt haben, jetzt sollen wir uns auch noch für Flamenco begeistern, was denn noch alles! Und ebenso werden die Kinder und Jugendlichen kritisch sein, wenn es um die großen Orientierungsfragen geht. Ist das nicht alles bloß bildungsbürgerlicher Ballast? Werde ich durch diese ganze Kultur nicht allzu brav? Sollte ich nicht stattdessen wild und gefährlich leben? Doch wir Lehrpersonen werden jeden Tag unser Bestes geben, um unsere Schüler:innen einzuführen in die großen Fragen und Themen der Kultur. Es gilt, junge Menschen zu begeistern.

      Menschliche Kultur ist etwas Kostbares. Etwas, das sich nicht von selbst versteht, etwas, das von vielen Voraussetzungen abhängt, das verletzlich ist und immer wieder erneuert werden muss. Leider auch etwas, das ganz leicht zerstört werden kann und das dann lange Pflege braucht, um wieder zu gedeihen. Sie werden später vielleicht keinen eigenen Unterrichtsraum bekommen wie meine Spanisch-Kollegin damals. Und Sie werden für die schönen, fiktiven Bilderrahmen mit den großen Orientierungsthemen keinen Platz an den Wänden haben, weil diese schon voll sind. Und dennoch: Wenn Sie und wenn alle Lehrer:innen zusammen jeden Tag nicht nur für unsere Fächer, sondern auch für die großen kulturellen Themen und Werte begeistern, dann können wir den Staffelstab später einmal an die neue Generation weitergeben. Denn dann haben wir den Kindern und Jugendlichen erzählt, „wovon der weiße Mann träumt, welche Hoffnungen er seinen Kindern an langen Winterabenden schildert und welche Visionen er in ihre Vorstellungen brennt, so daß sie sich nach einem Morgen sehnen“, wie es im Eingangszitat hieß (www.humanistische-aktion.de/seattle.htm). Bildung ist mehr als Information und Wissen und Kompetenz, Bildung ist mehr als Ausbildung. Nur wenn wir groß und weit denken, wird unsere Arbeit wirklich sinnvoll.

      Zwischen Schulverwaltung und Wissenschaft: Weshalb gehört das Lehramtsstudium an die Universität?

      Aber geht die Lehramtsausbildung nicht auch eine Nummer kleiner? Sollte die Ausbildung von Lehrpersonen nicht einfach an einem Lehrer:innenseminar erfolgen? Die Kluft zwischen dem, was Sie im Studium lernen und wie Sie an der Hochschule wissenschaftlich arbeiten einerseits und andererseits dem Schulstoff und seiner konkreten Vermittlung, ist sehr groß. Viele Lehramtsstudierende fragen sich, weshalb sie so viel und so grundsätzlich studieren müssen, ob in der Fachwissenschaft, ob in der Bildungsphilosophie.

      Die unbedingte Universität. Der französische Philosoph Jacques Derrida (1930–2004) formuliert in seiner Schrift Die unbedingte Universität: Nur die möglichst ganz frei gelassene Universität kann der Gesellschaft ein Geschenk machen, nämlich das Geschenk, auf dem Weg zu Wahrheit und Wahrhaftigkeit voranzuschreiten, indem neue Lösungen zu neuen Problemen frei debattiert und immer wieder neu gefunden werden.

      Hintergrund: Wahrheit heißt hier, keinem anderen Ziel oder Interesse verpflichtet zu sein, als die ursprünglichen Zusammenhänge der Dinge herauszubekommen. Wahrhaftigkeit bedeutet, das Leben der Wahrheit zu widmen und zu leben und zu handeln, wie es der Wahrheit oder der eigenen Überzeugung entspricht.

      Es geht um einen Forschritt nicht nur an instrumentellem und pragmatischem Wissen. Sondern es geht um Orientierung im Bereich der ganz grundsätzlichen Fragen der Kultur. Derrida fordert,

      […] daß die moderne Universität eine unbedingte, daß sie bedingungslos, von jeder einschränkenden Bedingung frei sein sollte. […] Was diese Universität beansprucht, ja erfordert und prinzipiell genießen sollte, ist über die sogenannte akademische Freiheit hinaus eine unbedingte Freiheit der Frage und Äußerung, mehr noch: das Recht, öffentlich auszusprechen, was immer es im Interesse eines auf Wahrheit gerichteten Forschens, Wissens und Fragens zu sagen gilt. […] Die Universität macht die Wahrheit zum Beruf – und sie bekennt sich zur Wahrheit, sie legt ein Wahrheitsgelübde ab. Sie erklärt und gelobt öffentlich, ihrer uneingeschränkten Verpflichtung gegenüber der Wahrheit nachzukommen. (Derrida 2016, 9f., Hervorhebung i. O.)

      Die Freiheit und das Neue. Es gibt einen guten Grund, weshalb das Lehramtsstudium an Universitäten und Hochschulen stattfindet. Die Gesellschaft stattet die Universitäten und Hochschulen mit einer besonderen Freiheit aus. Der Fachbegriff lautet Freiheit von Forschung und Lehre.

      Hintergrund: Im deutschen Grundgesetz, Art. 5 (3), heißt es: Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.

      Diese wird im Grundgesetz garantiert. Auf die universitäre Forschung und Lehre soll kein äußerer, etwa ideologischer Zwang wirken. Damit verbindet sich auch eine Hoffnung, nämlich dass die Universität in dieser Freiheit immer wieder neue Ideen hervorbringt. Die Freiheit ist Voraussetzung für das wirklich Neue. Die Lehrer:innenbildung soll auch deshalb an Universitäten und Hochschulen stattfinden, damit neue Impulse aus den Fachwissenschaften, aus der Fachdidaktik, aus den Bildungswissenschaften, der Psychologie und aus der Bildungsphilosophie in die schulische Bildung gelangen.

      Wahrheit. Derrida sagt, die Universität sei der Wahrheit verpflichtet.


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