Die große Inflation. Georg von Wallwitz
wie ein Tumor breitet sie sich plötzlich an Stellen aus, wo niemand sie erwartet hätte. Die Furcht vor der Inflation ist wohlbegründet, denn sie bringt weit mehr mit sich als nur den Verlust des Geldes.
Um sie zu begreifen, muss man sie vielleicht erfahren haben, so wie Erfahrung des Hungers nicht durch gelegentliches Fasten zu machen ist. Von der Hand in den Mund zu leben ruft ein grimmiges Gefühl hervor. Und wer es einmal erfahren hat, der vergisst es nicht wieder. Der Verlust der Ersparnisse ist ein ebensolches existenzielles Erlebnis. Diese Erfahrung lässt sich nicht wieder abschütteln. Generationenlang.
Mit diesem festen, aber unreflektierten Haltepunkt sind die Deutschen ein Volk, das in seinen finanziellen Angelegenheiten eine Verunsicherung ausstrahlt, die kaum mit seinem Wohlstand unter einen Hut zu bringen ist. Ihr Umgang mit Schulden ist bis heute von großer Naivität gekennzeichnet.2 Sie pflegen eine Sparquote, deren Höhe nur mit einer verzweifelten Angst vor der Zukunft zu erklären ist. Als folgten sie dem Motto penny-wise and pound-foolish, ziehen sie, auch wenn sie es nicht müssen, in ihren Anlagen häufig grotesk niedrig verzinste Girokonten, Sparbücher, Bargeld unter der Matratze und Lebensversicherungen allen sinnvollen Alternativen vor. Sie suchen für ihre Zukunft – und insbesondere ihre finanzielle Zukunft – oft eine Sicherheit, die vollkommen unrealistisch ist. Die Erfahrung des finanziellen Totalverlusts sitzt tief.
Es gibt hinreichend Anlass, sich mit dem Thema Inflation über das tradierte Wissen hinaus zu beschäftigen. Wir leben zwar in einer Zeit zahmer Inflationszahlen. Die Kerninflationsrate bleibt seit Jahren allzu weit unter dem erklärten Ziel der Zentralbanken von 2 %. Aber die Begleitumstände der außerordentlichen Maßnahmen, die diese seit der großen Finanzkrise von 2008/09 eingeleitet und immer weiter verstärkt haben, assoziieren wir normalerweise mit Zeiten der Geldentwertung. Die Sparer können nicht mehr vom Zins leben, und oft genug müssen sie sogar negative Zinsen ertragen. Die Hausse an den Aktienmärkten ist an der Mittelschicht, aus der die klassischen Sparer nach wie vor stammen, weitgehend vorübergegangen. Weite Teile der Bevölkerung beschleicht ein finanzielles Panikgefühl: Egal wo ich meine Ersparnisse investiere, wahrscheinlich gehen sie zum Teufel. Wie in den frühen 1920er Jahren gibt es eine neue Klasse von Spekulanten, und wie damals wird das Abenteuer Finanzmarkt nicht für alle gut ausgehen. Es tut sich eine Schere auf zwischen den neuen Schichten der Gewinner der digitalen Revolution und den vielen Verlierern der Umwälzung. Das wiederum führt zu Ressentiment, politischer Polarisierung und Korruption. Das Vertrauen in das staatliche Geld schwindet: Deutlichstes Zeichen ist der Aufstieg von Bitcoin, Ethereum und Dogecoin, die manche Merkmale eines Notgeldes aufweisen.
Weiten Teilen der Bevölkerung ist tief im Herzen die Geldschöpfung aus dem Nichts durch Zentral- und Geschäftsbanken unheimlich geblieben. Wie kann eine Zentralbank, etwa in den Jahren der Finanz-, Euro- oder Coronakrise, einfach riesige Summen Geldes schaffen, denen keine Wirtschaftsgüter gegenüberstehen, die nicht Produkt von Arbeit, sondern eine reine Kopfgeburt sind? Wie sollen die Menschen nicht bald ihren Glauben an das Geld verlieren, wenn es nur eine Setzung ist, deren Grund ein juristischer und kein wirtschaftlicher ist? Warum sollten die Menschen eine solche Währung halten und nicht lieber Gold oder Bitcoin? Viele denken heute in Deutschland so. Und wer wollte es ihnen verübeln, nach der immerhin zwar einhundert Jahre zurückliegenden, aber dennoch traumatisch nachwirkenden Erfahrung der Hyperinflation?
Die Entwicklung zur Großen Inflation hat nur in der Rückschau die Notwendigkeit, die ihr gerne zugesprochen wird. Die Kombination von Staatsverschuldung, hohen Reparationsforderungen nach dem Ersten Weltkrieg, Staatsfinanzierung durch die Reichsbank (so der damalige Name der deutschen Zentralbank) und Ausweitung der Geldmenge, der Verlust des Vertrauens in den Staat und das Defizit in der Leistungsbilanz ergaben zwar ein toxisches Gemisch, aber es hätte lange Zeit auch anders kommen können. Die Gläubigerstaaten, insbesondere die Amerikaner, hätten erkennen können, dass viele ihrer Forderungen wertlos waren, die Deutschen hätten Kredit bekommen können, die finanzielle Reform in Deutschland hätte konsequenter verfolgt werden können. Inflation ist kein Schicksal, sie ist meistens nicht mehr als der monetäre Ausdruck politischer Entscheidungen. In diesem Falle folgte sie aus dem Konsens, die Inflation sei das beste Mittel, die Reparationsforderungen aus dem Versailler Vertrag ins Leere laufen zu lassen, den Staat zu entschulden und im Krieg verlorengegangene Exportmärkte so schnell wie möglich wieder zu besetzen.
Lord D’Abernon, der Botschafter des Vereinigten Königreichs in Berlin während der Inflationszeit, assoziierte die Hauptursachen der Inflation mit bestimmten Persönlichkeiten. Die Schuld an der fahrlässigen Finanzierung des Staatsdefizits durch die Notenbank schrieb er dem Reichsbankpräsidenten Havenstein zu, für die Zwietracht und das Klima der Missgunst machte er den zum Agitator gewandelten Ökonomen Karl Helfferich verantwortlich, das Interesse der deutschen Exportindustrie an einer schwachen Mark sah er in Hugo Stinnes, dem »König der Inflation«, verkörpert, und schließlich lastete er die merkwürdige Idee der Erfüllungspolitik, die Zahlungsunfähigkeit durch den Ruin der eigenen Währung zu demonstrieren, Walther Rathenau an, dem von ihm sonst hochgeschätzten Industriellen, Schriftsteller und Außenminister. Der bemerkenswerte Zufall, dass diese vier innerhalb kurzer Zeit vor dem Ende der Inflation starben – und nur einer von ihnen eines natürlichen Todes –, ist den Zeitgenossen nicht verborgen geblieben. D’Abernon behauptete später sogar, diese vier mussten sterben, um die Inflation wirksam zu beenden.
1Schacht: 76 Jahre meines Lebens, S. 206.
2Carl-Ludwig Holtfrerich: »Die Deutschen können nicht mit Schulden umgehen«. Interview in der Zeit vom 10.6.2021.
Prolog
Es nieselte am 11. November 1918 in London, als die Straßen sich mit Menschen, immer mehr Menschen füllten, die instinktiv zum Buckingham-Palast strebten. Als der König in Admiralsuniform um 11:15 Uhr, wenige Minuten nach Inkrafttreten des Waffenstillstands, zusammen mit der Königin und dem Herzog von Connaught auf den Balkon trat, kannte der tränenreiche Jubel der Menge keine Grenze mehr. Die Irische Garde intonierte die Nationalhymne und Rule Britannia. Es war ein Fest der Dankbarkeit, der Erleichterung, des Stolzes, aber auch des Gedenkens an die Opfer.
Am frühen Nachmittag versammelte sich das Unterhaus, wo der Premierminister Lloyd George auf eine lange Rede verzichtete, mit den berühmten Worten: »This is no time for words. Our hearts are too full of a gratitude to which no tongue can give adequate expression.« Dann schlug er vor, einen Gottesdienst abzuhalten, in St. Margaret’s. Dort trafen die Unterhausabgeordneten auf die Lords, angeführt vom Lordkanzler. Es war ein einfacher Gottesdienst, ohne Pomp und Triumph, gehalten in der Hoffnung, dass der Albtraum nun vorbei war und ein dauerhafter Frieden folgen würde.3
In den frühen Morgenstunden hatten im Speisewagen eines im Wald von Compiègne (75 Kilometer nordöstlich von Paris) geparkten Zuges der französische Marschall Ferdinand Foch und der Staatssekretär ohne Portefeuille Matthias Erzberger ein Abkommen unterschrieben, welches den Ersten Weltkrieg beendete. Die Deutschen hielten das Abkommen für einen Waffenstillstand, denn so war es betitelt (»Armistice«). Franzosen und Engländer hielten es aber für eine Kapitulation, denn das war das Dokument seinem Inhalt nach: Die Deutschen erhielten keine Gelegenheit, die von den Alliierten aufgestellten Bedingungen zu verhandeln. Marschall Foch erschien nicht einmal zu den Gesprächen, nur für die Unterschrift. So endete der große Krieg, wie er begonnen hatte, mit einem großen Missverständnis.
Zurück in Paris informierte Foch den Präsidenten der Republik, Raymond Poincaré, über den Waffenstillstand. Poincaré nahm die Nachricht eher zurückhaltend auf, wie er in seinen Memoiren schildert. »Foch sagt mir, dass die Deutschen die Bedingungen akzeptiert haben, die er ihnen gegeben hat, aber sie haben sich nicht für besiegt erklärt, und das Schlimmste ist, dass sie glauben, dass sie es nicht sind. Foch ist außerdem überzeugt, dass die deutsche Armee ohne Unterzeichnung des Waffenstillstands bald zu einer allgemeinen Kapitulation gezwungen worden wäre. Wäre es nicht sicherer gewesen?« Doch daran war nun nichts mehr zu ändern. Am Nachmittag