Die große Inflation. Georg von Wallwitz
Morgen von mehr als fünfhundert Mädchen geküsst worden.«4 Jedenfalls schwiegen ab 11 Uhr die Waffen und in ganz Europa läuteten die Glocken. In Paris war die Freude unbeschreiblich. Zivilisten und Soldaten, viele von ihnen aus den fernsten Ländern des Britischen Empire und den USA, tanzten in den Straßen, schmückten die Balkone mit den Flaggen der Entente, häuften sich auf Autos und Pferdegespannen, um in seliger Freude fahnenschwenkend durch die Straßen der Stadt zu fahren. Die älteren Herren saßen in den Brasserien und tranken auf einen Sieg, durch den die Schmach von 1871 geheilt und Elsass-Lothringen zurückgewonnen wurde.
In der Führung des Landes war am Abend die Stimmung deutlich nüchterner. Sie spürte, dass etwas nicht stimmte. Poincaré vertraute einem seiner Generäle an, »Wir haben den Krieg gewonnen, und das nicht ohne Schmerzen. Jetzt müssen wir den Frieden gewinnen, und das wird vielleicht noch schwieriger (…), insbesondere mit allen unseren Alliierten.«5 Und Clemenceau, den Freunde wie Feinde nur den »Tiger« nannten, beschlich um dieselbe Stunde eine üble Vorahnung: »Es wird alles umsonst sein.«6
Der Krieg war also nicht wirklich zu Ende, er wurde nur mit finanziellen Mitteln weitergeführt. Und wenn der Waffenstillstand nicht das Ende des Krieges war, dann war das Folgende die Geschichte einer langen Kapitulation, die erst fünf Jahre später, mit dem wirtschaftlichen Zusammenbruch in der Hyperinflation, ihr Ende fand.
3Marriott: Modern England, 1885–1945. A History of My Own Times, S. 420.
4Zitate in Poincaré: Au service de la France, Band 10: Victoire et armistice, S. 413.
5Mordacq: L’Armistice du 11 novembre 1918. Récit d’un témoin, S. 105.
6Zit. nach Wormser: La République de Clemenceau, S. 341.
Geld spielt keine Rolle
Der Krieg liebt den Sieg und nicht die Dauer.
Sun Tzu
Die Redakteure von Brockhaus’ Conversations-Lexikon in der Jubiläums-Ausgabe von 1908, es handelte sich um die 14. Auflage, befanden den Begriff der Inflation keines eigenen Eintrags für würdig. Lediglich einen Satz hatte die Enzyklopädie übrig für die Partei der Inflationisten, die im fernen Amerika »eine möglichst große Vermehrung der auf Kredit beruhenden Umlaufsmittel verlangt, (…) welche den Geschäftsgang beleben, den verschuldeten Produzenten eine Erleichterung ihrer Last verschaffen und auch den Steuerzahlern bei der Verzinsung und Tilgung der Staatsschuld zu gute kommen würde«. Kein Wort über den Hintergrund der Debatte. Keine Erklärung, was Inflation ist, wie sie entsteht und was sie bedeutet. Die Deutschen waren nicht nur nicht auf eine Inflation vorbereitet, sie hatten kaum einen Namen dafür – weshalb sie diesem Phänomen gegenüber lange blind blieben. Im nationalen Gedankengut spielte die Geldentwertung keine, aber auch gar keine Rolle, und entsprechend begriffsstutzig reagierte das Land, als sie so plötzlich aus dem toten Winkel auftauchte.
Zu den wenigen, die einen klaren und deutlichen Begriff von der Inflation hatten, zählte Karl Helfferich, zu dieser Zeit einer der bekannteren Ökonomen und wichtigsten Geldtheoretiker Deutschlands. Das Schicksal wollte es, dass er 1915, im ersten vollen Kriegsjahr, für die Finanzen des Reichs verantwortlich zeichnete, als Staatssekretär im Reichsschatzamt – Finanzminister würden wir heute sagen. Er war kein geborener Politiker, und sein Lebensweg war so schief (und wurde bis zu seinem unschönen Ende 1924 immer schiefer), wie ihn nur Zeiten des Umbruchs hervorbringen können. Die entscheidenden Weichenstellungen zur Finanzierung des Krieges verantwortete damit ein ungewöhnlich intelligenter und kompetenter Mann, dem es nicht an Wissen mangelte, wohl aber an Weitsicht und, wie viele meinten, an Charakter.
Helfferich, 1872 geboren in eine national gesinnte Familie von Kleinindustriellen, war eine unscheinbare Gestalt, mit stets kurzgeschorenen Haaren, Schnauzbart und nach vorn gerecktem Hals. Wie es oft bei Gelehrten der Fall war, hatte das Bücherstudium seiner Wirbelsäule einen leichten Buckel eingeschrieben. In seiner Militärzeit als einjähriger Freiwilliger stürzte er vom Pferd, brach sich mehrere Rippen und verletzte sich so schwer an der Lunge, dass er für den Rest seines Lebens körperliche Anstrengungen möglichst vermeiden musste. Er sollte die Studierstube, die er nach seiner Genesung in Straßburg bezog, nur ausnahmsweise verlassen, so der ärztliche Rat, und darüber hinaus eine strenge Diät halten. Fortan widmete er sein Leben der Arbeit.
Nach seiner Promotion bei Georg Knapp, einem bedeutenden Geldtheoretiker, ging Helfferich nach Berlin, um dort seine Habilitationsschrift über die Währungsunion im Deutschen Reich und den Goldstandard vorzubereiten. Mit der Empfehlung seines Doktorvaters knüpfte er schnell ein Netzwerk, das ihn mit den wichtigsten Gestalten des politischen und wirtschaftlichen Establishments verband. Er war von konservativer Grundhaltung, aber dennoch fortschrittsgläubig wie ein Linkshegelianer, da er eine historische Notwendigkeit im Aufstieg Deutschlands zu erkennen glaubte. Um dieser Entwicklung willen akzeptierte er bereitwillig Gewalt als Teil des Kampfes der Nationen um ihre (imperiale) Stellung in der Welt. Allerdings ging er davon aus, dass die Kriege der Zukunft kurz und begrenzt sein würden, zu eng war die gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeit der Großmächte.
Helfferich entwickelte sich zu einem Sprachrohr der aufgeklärten Geschäftselite in Berlin. Man wurde aufmerksam auf den sprachgewandten, gelehrten und ambitionierten jungen Mann, der hervorragend in seine Zeit passte. Insbesondere eignete er sich als Publizist, denn er konnte schreiben, verstand etwas von der Sache und hatte wenig zu verlieren. Er hielt Vorlesungen an der Berliner Universität, gelegentlich auch in Hamburg und Kiel, zu geldtheoretischen Themen. Fleißig saß er tagtäglich von morgens um acht bis spät in den Abend hinein an seinem Schreibtisch und arbeitete an seinem Ruf, unterbrochen nur durch ein »Abendessen« in der Mitte des Nachmittags. Aus Rücksicht auf seine fragile Gesundheit rauchte er nicht, trank keinen Alkohol und aß nicht viel (er selbst behauptete, er stehe aus Zeitmangel niemals satt auf vom Tisch).
Ab 1902 durfte er sich zwar Professor der Staatswissenschaften nennen, realisierte aber gleichzeitig, dass das Gelehrtenleben nichts für ihn war. Er empfand sich nun als einen Mann der Tat, als Technokrat, der lieber im Staat aktiv war, als ihn bloß zu beschreiben. So ergriff er die Gelegenheit, in die Kolonialabteilung des Außenamts einzutreten, um sich dort um Währungsfragen zu kümmern. Er zeigte sich äußerst intelligent und engagiert und empfahl sich für höhere Aufgaben. Sein Aufstieg geriet allerdings kurzzeitig ins Stocken, als er die Aufmerksamkeit des württembergischen Reichstagsabgeordneten Matthias Erzberger erregte, dem Experten der Zentrumspartei für Kolonial- und Finanzpolitik, der es sich in dieser Zeit zur Hauptaufgabe gemacht hatte, die Missstände in den Überseegebieten scharf zu kritisieren.
Erzberger war ein junger Wilder in der Politik, der mitunter den Honoratioren der Zentrumspartei hemdsärmelig begegnete, dem lautes Auftreten nicht fremd war und der gerne mit gleicher Münze zurückzahlte, wenn er angegriffen wurde. Er war in der katholischen Arbeiter- und Sozialbewegung Württembergs groß geworden, nahm aber auch gerne ein Aufsichtsratsmandat bei Thyssen an. Er verstand es, mit der öffentlichen Meinung zu spielen, ein Medienprofi, der seinen erlernten Beruf als Journalist noch als Reichstagsabgeordneter ausübte. Seine Redekunst und Umtriebigkeit verhalfen ihm früh zu großer Bekanntheit, machten ihm aber auch viele Feinde in den Regierungsetagen Berlins. Er war ein ausnehmend talentierter Politiker, nicht ohne Interessenkonflikte, mit großer Angriffsfläche, der sich vermutlich nicht viel dabei dachte, als er sich Helfferich zum Feind machte.
Erzbergers Enthüllungen über Korruption, Vetternwirtschaft und Ausbeutung in den deutschen Kolonien führten dazu, dass Helfferich 1906 seinen Posten räumen musste. Als Entschädigung für dieses Bauernopfer