Übungen im Fremdsein. Olga Tokarczuk

Übungen im Fremdsein - Olga Tokarczuk


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– als eine radikal grausame. Und man wird in ihr leben müssen. Costello findet ihre eigene Lösung: Wenn man einmal »erkannt« hat, ist das Einzige, was einem bleibt, eine »mitfühlende Vorstellungskraft«[6] zu entwickeln, das heißt Mitgefühl oder, in der Begrifflichkeit der westlichen Psychologie, Empathie.

      Insbesondere die Empathie ist das Thema von Costellos zweitem Vortrag, und ein großer Teil der Diskussionen in Das Leben der Tiere kreist um diese Frage. Die Schriftstellerin verweist auf Philosophie und Literatur – Bereiche, die in der Lage sind, über die rationale, praktische Sprache hinauszugehen und es einem menschlichen Wesen zu ermöglichen, ein anderes Wesen zu verstehen. Die Wissenschaft hat uns in die Irre geleitet. Allen Untersuchungen und wissenschaftlichen Experimenten zum Trotz konnten wir nicht herausfinden – und werden es wahrscheinlich nie –, was im Gemüt einer Kuh oder eines Hundes vorgeht. Wir können lediglich spekulieren und uns auf Annahmen stützen, die oft Vorurteilen gleichkommen, während wir Hunde konditionieren, Labyrinthe für Ratten bauen und zulassen, dass gleichzeitig die Maschinerie des Todes und der Grausamkeit auf vollen Touren weiterläuft.

      Warum nehmen wir an, dass die Tiere weder Verstand noch Bewusstsein haben?, fragt Costello. Wenn wir es nicht wissen, könnten wir doch ebenso gut das Gegenteil annehmen, oder? Doch das tun wir nicht.

      Einem Menschen, der sich in einer ähnlichen Situation befindet wie Costello, weil ihm bewusst geworden ist, dass er in einer Welt lebt, in der täglich Millionen Tiere getötet werden, ergeht es wie ihr: Er fühlt sich einsam, hält sich vielleicht sogar für verrückt. Er sieht etwas, was andere nicht wahrnehmen. Er erlebt seine Machtlosigkeit: Was kann man tun? Andere wollen nicht einmal darüber sprechen, womöglich, weil sie sich tief im Inneren doch schuldig fühlen. »So ist das Leben«, konstatiert Costello. Und fragt sich selbst: »Alle anderen finden sich damit ab, warum kannst du es nicht? Warum kannst du es nicht?«[7]

      Sprechen. Die Schriftstellerin möchte in ihren Vorträgen alles auf einmal sagen. Sie versucht, mit ruhigen und logischen Argumenten zu operieren. Doch ihre Wahrheit ist größer als jedes Argument, sie lässt sich nicht in den akademischen Rahmen einschließen. Ihre Ausführungen können das in akademischen Debatten geschulte Universitätspublikum nicht überzeugen, sie lassen sich leicht widerlegen, verlachen, anzweifeln oder – wie es Norma tut, die Schwiegertochter der Schriftstellerin – als Ego-Spielchen deuten. Und doch wird diese persönliche Verweigerung der Mitwirkung an dem fortwährenden, von der Mehrheit unbemerkten Auschwitz zu einem heroischen Akt, und zwar umso mehr, als Elizabeth Costello offenbar scheitert. Sie vermag niemanden zu überzeugen. Die Zuhörer fühlen sich peinlich berührt.

      Costello ist, wie wir alle, Teil einer Welt, die genüsslich alle möglichen Tabus auf die Probe stellt und für nichtig erklärt. Doch dieses eine, letzte, hält uns mit aller Macht auf Distanz. Über Tiere und ihr Leiden zu sprechen, löst Verlegenheit aus, es ist »abgehoben« – wie der Vegetarianismus oder die Forderung nach Tierrechten. Es gilt als Wunderlichkeit, als peinliche Idiosynkrasie.

      Das mehrdeutige Ende des Buches eröffnet überraschend eine weitere Interpretationsmöglichkeit. Der Sohn flüstert der Schriftstellerin zu: »Na na. Bald ist es vorbei«[8], und diese tröstenden Worte lassen sich als Schuldbekenntnis deuten, vor allem aber als Eingeständnis dessen, dass wir alle uns der eigenen Grausamkeit bewusst sind und sie als integrales Merkmal der menschlichen Existenz, als Eigenschaft der Welt betrachten. Wir wissen, aber wir schweigen. In dieser Lesart erhält Coetzees Werk eine ganz andere, düstere Bedeutung, es wird zur manichäischen Diagnose der existenziellen Verstrickung des Menschen in die Finsternis, aus der einzig der Tod hinausführt.

      In der Originalausgabe von The Lives of Animals wurden Costellos Quasi-Vorträge vom Verlag durch Kommentare renommierter Wissenschaftler ergänzt. Indem nun die von Coetzee verfassten Vorträge Elizabeth Costellos von anderen kommentiert werden, wiederholt sich das Schema der Erzählung. Dabei wird erkennbar, wie gehaltvoll der Text des Schriftstellers ist, welche unterschiedlichen Reaktionen er hervorruft, in wie viele Richtungen die Lektüre gehen kann. Sollte man Bücher nicht immer so lesen – in guter Gesellschaft? Zumal die Bücher von Coetzee. Seine ernsthafte, scheinbar überaus konkrete und transparente Prosa wirkt nur auf den ersten Blick intellektuell oder gar didaktisch. Im Grunde arbeitet er mit Situationen und Bildern, die offenbleiben und die sich sowohl auf die Emotionen und den gesunden Menschenverstand als auch auf den intellektuellen Diskurs beziehen.

      Costellos Vorträge stützen sich auf andere kognitive Instrumente, und die Form von Coetzees Vortrag – die literarische Fiktion – bietet keine Anknüpfungspunkte für eine sachliche philosophische Diskussion. »Coetzee muss sich nicht einmal groß bemühen, den Vortrag zu strukturieren«, klagt Peter Singer in seinem Kommentar zu Das Leben der Tiere. »Wenn er bemerkt, dass Costello anfängt, wirres Zeug zu reden, genügt es, dass er Norma feststellen lässt, dass sie wirres Zeug redet.«[9] Als subjektive und damit auch »vollständige« Person, muss Costello in ihren Ansichten radikal sein, und es ist auch verständlich, dass sie sich einer anderen Argumentation bedient (wenn man die Forderung nach einer »mitfühlenden Vorstellungskraft« für einen Philosophen überzeugend nennen kann). Für seine Auseinandersetzung mit Costellos Argumenten nutzt Singer raffiniert die Form eines fiktiven Dialogs mit seiner Tochter, in dem er die Philosophie gegen die Angriffe der Schriftstellerin verteidigt. »Wir dürfen unsere Gefühle nicht für moralische Daten halten, die gegen rationale Kritik immun sind«[10], sagt er und widerspricht damit der Auffassung von Empathie als moralischer oder epistemischer Kategorie.

      Die Empathie ist in der Geschichte der Menschheit eine recht junge Erscheinung. Erstmals zeigte sie sich vermutlich mehr als sechs Jahrhunderte vor Christus im Fernen Osten, in der buddhistischen Lehre. Jedenfalls benannte und würdigte niemand zuvor diese neue Haltung: den anderen so zu betrachten, als wäre man es selbst; der scheinbaren Grenze zu misstrauen, die uns von anderen trennt, denn sie ist eine Täuschung. Was immer dir geschieht, geschieht mir. »Fremdes Leiden« gibt es nicht. Die illusorische Grenze trennt nicht nur die Menschen voneinander, sondern auch die Menschen von den Tieren. In diesem buddhistischen Sinne versteht Costello die Empathie. Zwischen den Zeilen klingen atheistische Aspekte des Buddhismus an: Die Erkenntnis der Lage, in der wir uns alle befinden, treibt uns in die Enge, denn es gibt keine Hoffnung, und es sieht so aus, als wäre die Welt nicht als gut geschaffen worden, als gründete sie auf Leiden, das sich nicht vermeiden lässt. Und obwohl wir nicht wissen, warum dem so ist, müssen wir uns in diesem Ozean der Hoffnungslosigkeit anständig verhalten – das macht uns zu Menschen, nicht unsere DNA. Uns so verhalten, als hätte es eine Bedeutung, als gäbe es Prinzipien und Normen, als existierte ein erlösendes und rettendes Gutes, das unserem Handeln einen Sinn verleiht.

      Der Verstand steht kopf oder Die Umkehrung der Perspektive. Michel Faber, Die Weltenwanderin

      In diesem Roman findet die Forderung nach dem Einsatz von Empathie als Mittel der Erkenntnis ihre volle literarische Umsetzung. Der Kunstgriff ist einfach. Die gewohnte und von uns fraglos hingenommene Struktur der Bedeutungen wird plötzlich auf den Kopf gestellt. Faber kehrt die Perspektive radikal um.

      Die Ausgangssituation ist folgende: Wir werden Zeugen einer Jagd. Ein Exemplar einer Gattung jagt Exemplare einer anderen Gattung. Nach dem Fang werden sie einer speziellen Mast unterzogen, der gefangene Körper wird als Objekt behandelt, als potenziell wertvolle, gefragte Nahrung. Wenn die gewünschte Fleischqualität erreicht ist, wird das gemästete Exemplar getötet, sein Fleisch portioniert und verkauft.

      Eine banale Geschichte. Was ist so schockierend daran? Das Mästen von Exemplaren anderer Gattungen ist eine Tatsache, niemand stört sich daran. Es handelt sich um eine vertraute Situation in der Natur – eine Gattung beutet die andere aus.

      Doch Die Weltenwanderin füllt das Schema »A mästet und frisst B« mit anderen Daten. Ein scheinbar kleiner Kniff macht das Buch zu etwas Entsetzlichem, zu einem Albtraum: Das Mastvieh ist hier der Mensch, der Homo sapiens, und gemästet wird er von einer anderen, nichtmenschlichen (aber auch nicht tierischen) Gattung. Diese Wesen erinnern an Hunde oder Wölfe; ihr Verständnis vom Unterschied zwischen ihnen selbst und den Menschen (die sie »Wotzel« nennen) ist im Grunde oberflächlich – aber uns nur allzu gut bekannt. Weil sie selbst Vierbeiner sind, fühlen sie sich den Schafen näher als den zweibeinigen, felllosen


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