Übungen im Fremdsein. Olga Tokarczuk

Übungen im Fremdsein - Olga Tokarczuk


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Aufbau des Hauses der Schöpfung – der Mensch sei als einziges Wesen mit Intellekt bedacht worden, und die Macht der Vernunft sei von allen menschlichen Eigenschaften die wichtigste und bedeutendste. Alle Wesen, die über einen geringeren Verstand verfügten, stünden in der Hierarchie naturgemäß niedriger (mit derselben Logik rechtfertigte Aristoteles den Sklavenhandel – er behauptete, bestimmte Menschen seien Sklaven »von Natur aus«).

      Ihre endgültige Gestalt erhielt die Idee bei Augustinus, der es für falsch hielt, das biblische Gebot »Du sollst nicht töten« auch auf nicht vernunftbegabte Geschöpfe zu beziehen.

      Wann immer man etwas Definitives über das frühe Christentum sagen möchte, sollte man bedenken, wie viele unterschiedliche Visionen, Ideen und Interpretationen ihm zugrunde lagen. Sicher ist aber, dass sein Verhältnis zu den Tieren voreingenommen und feindselig war. Thomas von Aquin, der aus der frühchristlichen Vielstimmigkeit eine kohärente und ausgeklügelte Philosophie formte, schloss an die Ideen des Augustinus an und ging zugleich darüber hinaus. Er meinte, die Tiere seien nicht nur nicht vernunftbegabt, sondern es fehle ihnen auch die unsterbliche Seele, weshalb ihr Tod – im weitesten Sinne – völlig bedeutungslos sei. Wir hätten keine direkten moralischen Verpflichtungen gegenüber den Tieren, weil nur eine Person (das heißt ein vernunftbegabtes und zur Selbstbeherrschung fähiges Wesen) Subjekt von Pflichten und Rechten sein könne.

      Dies war zweifellos ein radikaler Standpunkt, der später die Massentierhaltung zur Fleischproduktion begünstigen sollte. Man kann auch sagen, dass der Aquinate die Menschen für lange Zeit von der Verantwortung für das Töten von Tieren lossprach. Wir haben immer noch das klare »Du sollst nicht töten« in Erinnerung, das aber durch Interpreten wie Thomas von Aquin so durch Voraussetzungen und Ausnahmen verwässert wurde, dass der ursprüngliche Sinn des Gebots völlig verloren ging. In den meisten antiken Kulturen war der Verzehr von anderem als Opferfleisch tabu. Um ein Tier zu essen, musste man es erst als Opfer darbringen; diese Geste befreite den Tötenden von der Schuld, einem anderen Wesen das Leben genommen zu haben.

      Bei Descartes erscheint zum ersten Mal die schreckliche Vision des Tiers als Maschine, die nach recht einfachen mechanischen Regeln funktioniere. Der Mensch zeichne sich durch die Vernunft und eine unsterbliche Seele aus, die Tiere indes ähnelten eher Automaten als lebendigen Wesen, womit nicht mehr nur das Töten und der Verzehr von Tieren ethisch unbedenklich erschienen, sondern auch Praktiken wie die Vivisektion.

      Kant schrieb am Ende des 18. Jahrhunderts, wir hätten den Tieren gegenüber keine unmittelbaren Pflichten, weil sie keine selbstbewussten Wesen seien. Sie seien lediglich Mittel zum Zweck. Der Zweck wiederum sei der Mensch.

      Auch die katholische Kirche bestritt konsequent jede moralische Verpflichtung des Menschen gegenüber den Tieren. Noch Mitte des 19. Jahrhunderts verweigerte Papst Pius IX. die Zustimmung zur Gründung einer Gesellschaft zur Verhütung von Tierquälerei. Im gegenwärtigen Katechismus der Katholischen Kirche heißt es, der Mensch schulde den Tieren Wohlwollen und dürfe sie nicht unnötig leiden lassen, aber auch: »Tiere, Pflanzen und leblose Wesen sind von Natur aus zum gemeinsamen Wohl der Menschheit von gestern, heute und morgen bestimmt.«

      In der Biologie hingegen gilt nach wie vor der Lehrsatz, den Conwy Lloyd Morgan, ein Pionier der experimentellen Tierpsychologie, gegen Ende des 19. Jahrhunderts formulierte: »In keinem Fall sollten wir eine Handlung als das Ergebnis der Ausübung eines höheren geistigen Vermögens interpretieren, wenn sie auch als das Ergebnis eines in der geistigen Skala niedrigerstehenden geistigen Vermögens interpretiert werden kann.« Will sagen: Wir sollten das Verhalten von Tieren besser mit Reflexen und Instinkten erklären, statt ihnen höheres Denken und Fühlen zuzuschreiben.

      Der Gerechtigkeit halber muss jedoch an die großen Denker erinnert werden, die einen anderen Standpunkt vertraten. Der heilige Johannes Chrysostomos lehrte – gleichsam im Vorgriff auf Darwins Theorie –, die Herkunft der Tiere sei dieselbe wie unsere, wir schuldeten ihnen deshalb Güte und Sanftheit. Der heilige Franziskus von Assisi predigte die Liebe zur Natur, doch vor allem forderte er, wir sollten die Tiere als unsere Brüder und Schwestern betrachten. Der große Montaigne, der seiner Zeit in jeder Hinsicht voraus war, hielt es für ein Zeichen mangelnder Vorstellungskraft und für ein Vorurteil eines beschränkten Geistes, sich über den Rest der Schöpfung zu stellen. Den größten Dienst erwies den Tieren aber Jeremy Bentham, ein Philosoph des 18. Jahrhunderts und Vorläufer der modernen Tierethik. Er formulierte als Erster, was vielen heutigen Menschen offensichtlich erscheint: Zweifellos seien die Menschen in vielerlei Hinsicht vollkommener als die Tiere, auch aufgrund ihres Verstandes oder des Grades ihres Selbstbewusstseins. Für die moralische Betrachtung seien diese Unterschiede freilich irrelevant. Im Jahr 1780 schrieb er: »Die Frage ist nicht: können sie [die Tiere] verständig denken? Oder können sie sprechen? Sondern: können sie leiden?«[1]

      Verstand gegen Verstand – Singer

      Peter Singer ist der radikalste Ethiker unserer Zeit. Wir kennen seine erhellende und schlüssige Argumentation für die Rechte der Tiere. Seit Jahren legt er dar, wie irrational und unlogisch unser Verhältnis zu diesen Wesen ist. Seine Methode ist die des Philosophen: die Ordnung der Vernunft dort einzuführen, wo Vorurteile und Inkonsequenz herrschen.

      Für Singer ist das fundamentale Prinzip, auf das sich die Gleichheit aller menschlichen Wesen stützt, das Prinzip der gleichen Abwägung von Interessen. Dem wird jeder zustimmen, der die Rassen- oder Frauendiskriminierung zu den drängendsten moralischen und politischen Fragen zählt. Niemand bezweifelt heute mehr, dass eine derartige Diskriminierung ethisch verwerflich ist. Singer geht noch weiter und fordert, das Gleichheitsprinzip als sittliche Grundlage der Beziehungen zu anderen Menschen auf das Verhältnis zu den Tieren auszuweiten. Warum? Weil die Sorge für die anderen nicht davon abhängen dürfe, was sie seien und welche Fähigkeiten sie besäßen (wenngleich natürlich auch von ihren unterschiedlichen Merkmalen und Eigenschaften abhänge, was wir für sie tun könnten). Dass manche Menschen nicht unserer Rasse angehörten, berechtige uns schließlich nicht, sie auszubeuten. Dasselbe habe für die Tiere zu gelten – die Tatsache, dass sie nicht unserer Gattung angehörten, berechtige uns nicht, ihnen Leid zuzufügen.

      Singer ist Utilitarist, das heißt, ethisch ist für ihn ein Verhalten, das für die Betroffenen die bestmöglichen Konsequenzen hat. »Bestmögliche Konsequenz« ist für Singer, was der Verwirklichung ihrer Interessen dient und nicht nur – wie im klassischen Utilitarismus Benthams – ihr Wohlbefinden steigert und ihren Schmerz mindert. Mit Bentham verweist Singer auf die Fähigkeit zu leiden als wesentliches Merkmal, das gleichsam jedem Wesen das Recht gebe, mit anderen leidenden Wesen, auch mit dem Menschen, auf eine Stufe gestellt zu werden.

      In der buddhistischen Philosophie gibt es den Begriff des »fühlenden Wesens«. Er wird allgemein als Bezeichnung sowohl des Menschen als auch anderer, nichtmenschlicher Lebewesen gebraucht. Es ist eine besondere, ungewöhnliche Kategorie, die nichts mit der Vernunftbegabung zu tun hat, sondern sich auf die Fähigkeit zum Empfinden von Leid und Freude, zur körperlichen und geistigen Teilhabe an der Welt bezieht. Einen solchen Zugang hat unsere Philosophie erst vor zweihundert Jahren entdeckt. Singer begreift die Fähigkeit zu leiden in eben diesem Sinne und ist darin stark dem buddhistischen Denken verpflichtet. Zugleich meint er, dass sich die Widersprüche und Missverständnisse im Denken über die Tierrechte mithilfe des Verstandes lösen ließen. In Animal Liberation. Die Befreiung der Tiere zeigt er seinen Lesern, wie sie ihren Standpunkt logisch und rational darlegen und auf Gegenargumente erwidern können. Er glaubt, dass der Gegner seine Ansichten ändert, wenn man ihm Unlogik oder Inkonsequenz nachweist.

      Zusammenfassend können wir sagen: Singer zeigt auf, dass unser von Grausamkeit geprägtes Verhältnis zu den Tieren eigentlich unreflektiert ist. Es gründet auf Vorurteilen und entbehrt jeglicher Logik. Es ist ein Fehler im logischen Denken, der das selbstsüchtige und primitive Beharren auf den Privilegien rücksichtsloser Ausbeuter rechtfertigt. Und wenn wir nur erst unseren Verstand in seinem vollen Umfang nutzen, wie er es verdient, dann werden wir erkennen, wie primitiv und inkohärent die cartesianische Logik ist.

      Können Einsicht und Empathie Instrumente der Erkenntnis sein?

      Betrachten wir nun ein Buch von John Maxwell Coetzee. Für mich


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