Übungen im Fremdsein. Olga Tokarczuk

Übungen im Fremdsein - Olga Tokarczuk


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großen Veränderungen traten meist in der Folge von Kataklysmen und Kriegen ein. So sollen die Menschen kurz vor dem Ersten Weltkrieg das Gefühl gehabt haben, es nahe das Ende einer Etappe, einer ganzen Welt. Vielen erschien die Situation unerträglich, wenn sie sich auch dieses Eindrucks nicht vollkommen bewusst waren. Heute können wir den Enthusiasmus nicht mehr verstehen, der jubelnde Menschenmengen auf die Straßen trieb, wo sie mit Vivatrufen die in den Krieg ziehenden jungen Männer verabschiedeten. Ihr munterer Schritt – der wegen der damaligen Filmtechnik zackig wirkt, als marschierten Marionetten – führte die Soldaten irgendwo weit fort, bis hinter den Horizont, wo bereits die Schützengräben von Verdun und die Oktoberrevolution lauerten. Bald sollte die ganze Ordnung ihrer Welt einstürzen. Auf dass wir diesen Fehler nicht wiederholen …

      Heute – wo der seltsame Sommer 2020 seinem Ende zugeht – sind wir es, die nicht wissen, was auf sie zukommt. Sogar die Experten hüllen sich in Schweigen; sie wollen nicht zugeben, dass die in keiner anderen Lage sind als die heutigen Meteorologen, die wegen der klimatischen Wirren das Wetter nicht mehr vorhersagen können. Die Welt um uns herum ist zu komplex geworden – und das in mehreren Dimensionen zugleich. Eine spontane, reflexartige Antwort auf diesen Zustand ist die Reaktion von Traditionalisten und Konservativen, die die gestiegene Komplexität wie eine Krankheit, wie eine Störung behandeln. Als Heilmittel wollen sie uns Nostalgie, die Rückkehr in die Vergangenheit verordnen, halten krampfhaft an Traditionen fest. Da die Welt zu kompliziert geworden ist, muss man sie vereinfachen. Dass wir mit der Realität nicht zurechtkommen – umso schlimmer für die Realität. Die Sehnsucht nach einer verlorenen Zeit zieht sich durch unser Denken, durch die Mode, durch die Politik. Was Letztere betrifft, so verbreitet sich der Glaube, man könne die Zeit zurückdrehen und in denselben Fluss steigen, dessen Wasser vor Jahrzehnten vorüberflossen. Ich glaube nicht, dass wir heute in das damalige Leben noch hineinpassten. Wir fänden nicht mehr genügend Platz in der Vergangenheit. Weder unsere Körper noch unsere Psyche.

      Und wenn wir einen Schritt zur Seite machten? Wenn wir die ausgetretenen Pfade unserer Überlegungen, Gedanken, Diskurse verließen und uns aus den Systemen von Blasen hinausbegäben, die alle um ein gemeinsames Zentrum kreisen? An einen Ort, von dem wir besser und weiter sehen, von dem aus die Konturen des breitesten Kontextes erkennbar sind.

      Als Greta Thunberg postulierte: Schließt die Bergwerke, fliegt nicht mehr, konzentriert euch auf das, was ihr habt, und nicht auf das, was ihr alles haben könntet, wollte sie damit wohl kaum sagen, dass wir wieder auf Pferdewagen umsteigen und in Hütten mit Holzöfen ziehen sollten. Als Schwarzer Schwan hat sich hier die Pandemie erwiesen, die – wie es bei Schwarzen Schwänen eben so ist – niemand vorausgeahnt hat und die alles verändert. Mein Lieblingsbeispiel für einen Schwarzen Schwan sind die Ereignisse in London zu Ende des 19. Jahrhunderts: Die Einwohner der hoffnungslos überfüllten, engen und verdreckten Stadt sorgten sich, dass die Haufen an Pferdemist auf den Straßen in naher Zukunft den ersten Stock der Wohnhäuser erreichen würden, wenn das Verkehrsaufkommen weiter so rasant anstiege. Schon begann man, nach Lösungen zu suchen, schon meldete man Patente auf spezielle Ablaufsysteme für den Straßenrand an und rieb sich die Hände in Erwartung der florierenden Geschäfte mit dem Abtransport von Pferdemist. Und da wurde das Auto erfunden.

      Im kognitiven Sinn kann der derzeitige Schwarze Schwan einen Wendepunkt darstellen – allerdings nicht, weil er möglicherweise eine Wirtschaftskrise ausgelöst oder den Menschen ihre Vergänglichkeit und Sterblichkeit vor Augen gehalten hätte, denn schließlich gibt es zahlreiche und höchst unterschiedliche Auswirkungen der Pandemie. Die wichtigste davon scheint mir allerdings zu sein, dass das tief verinnerlichte Narrativ vom Menschen als Herrn der Schöpfung, der Kontrolle über die ganze Welt besitzt, einen Bruch erfahren hat. Vielleicht ist dem Menschen als Gattung die Macht zu Kopfe gestiegen, die ihm aufgrund seines Verstandes und seiner Kreativität zufiel, und das wiederum hat ihn zu dem Gedanken verleitet, dass er und seine Interessen immer und überall im Vordergrund stünden. Mit einer anderen Perspektive, einem anderen Blick aber wird er sich ebenso wichtig und obendrein unentbehrlich fühlen können – als entscheidendes Auge des gesamten Netzes nämlich, als Übermittler von Energie, vor allem aber als Verantwortlicher für die Gesamtheit des komplexen Gebäudes. Verantwortung ist dabei der Faktor, der es ihm gestattet, sich ein Gefühl der eigenen Wichtigkeit zu bewahren, und der dadurch das mühevoll im Laufe von Jahrhunderten errichtete Konstrukt der Vorrangstellung des Homo sapiens nicht abwertet.

      Ich bin überzeugt, dass unser Leben nicht nur eine Summe von Ereignissen ist, sondern ein verschlungenes Sinngefüge – das wir selbst schaffen, indem wir den Ereignissen jeweils einen Sinn zuschreiben. Die einzelnen Sinnhaftigkeiten wiederum ergeben zusammen ein wundersames Geflecht von Geschichten, Begriffen, Ideen, und man könnte es als eines der Elemente bezeichnen, die – wie Luft, Erde, Feuer und Wasser – unsere Existenz physisch bedingen und uns als Organismen formen. Die Geschichte, das Erzählen ist somit das fünfte Element, das uns die Welt auf ebendiese und keine andere Weise sehen lässt, das uns ihre unendliche Vielfalt und Vielschichtigkeit verstehen, unsere Erfahrung einordnen und sie von Generation zu Generation, von einer Existenz zur anderen weitergeben lässt.

      Kairos

      Der Holzstich aus Flammarions Werk zeigt einen kairotischen Augenblick. Kairos ist eine der niederen Gottheiten, die verglichen mit den Olympischen Göttern nicht besonders bedeutend erscheinen und sich nur irgendwo in der mythologischen Peripherie bewegen. Jener Kairos nun ist ein recht eigentümlicher Gott mit einer ebenso eigentümlichen Frisur. Sie ist sein Erkennungsmerkmal: Sein Hinterkopf ist kahl, der Stirn entspringt ein Schopf, bei dem man ihn packen kann, wenn er näher kommt – nicht mehr aber, wenn er sich bereits wieder entfernt. Er ist der Gott der Gelegenheit, des flüchtigen Moments, der unfassbaren Möglichkeit, die sich nur für einen kurzen Augenblick eröffnet und die man, ohne zu zögern, ergreifen (beim Schopfe packen!) muss, damit sie nicht ungenutzt vorübergeht. Übersieht man Kairos, verpasst man die Gelegenheit zur Veränderung – zur metanoia –, die aber nicht Resultat eines langen Prozesses, sondern eines folgenschweren Moments ist. In der griechischen Tradition bezeichnet kairos die Zeit, jedoch nicht den mächtigen Zeitstrom, den chronos, sondern eine Ausnahmezeit: den entscheidenden, alles verändernden Augenblick. Kairos ist immer mit einer Entscheidung des Menschen selbst verbunden, nicht mit unweigerlichem Schicksal, Fatum, äußeren Umständen. Die symbolische Geste des »Beim-Schopfe-Packens« bedeutet, sich der Möglichkeit zur Veränderung gewahr zu werden, die Schicksalswende selbst in die Hand zu nehmen.

      Für mich ist Kairos der Gott der Exzentrik – wenn man unter »Exzentrik« die Aufgabe der »zentrischen« Sichtweise, der ausgetretenen Pfade im Denken und Handeln versteht, das Verlassen wohlbekannten Terrains, das mittels gemeinschaftlicher Denkgewohnheiten, Rituale, verfestigter Weltanschauungen gewissermaßen abgesteckt worden ist. Exzentrik gilt seit jeher als wunderlich und randständig – dabei muss doch alles Schöpferische und Geniale, das die Welt in eine neue Richtung lenkt, zwangsläufig »ex-zentrisch« sein. Exzentrik bedeutet, das Althergebrachte, das, was als normal und selbstverständlich angesehen wird, spontan und auf spielerische Art infrage zu stellen; sie ist eine Herausforderung an Konformismus und Hypokrisie, ein kairotischer Akt des Mutes, dessen es bedarf, im richtigen Moment zuzugreifen und das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen.

      Wir haben das allgemeine Wissen verdrängt und den Sinn für eine ganzheitliche Wahrnehmung irgendwo verloren. Nach und nach gehen die letzten Gelehrten von uns, die großen »Ex-zentriker« – wie etwa Stanisław Lem oder Maria Janion –, die Verbindungen zwischen scheinbar weit auseinanderliegenden Wissensgebieten zu erfassen und aufzugreifen in der Lage sind, die ihren Kopf über den Weltenrand der vereinbarten Ordnung hinausstrecken. Früher haben wir wenigstens versucht, die Welt in einer Ganzheit zusammenzufassen, indem wir kosmogonische und ontologische Visionen entwickelten und Sinnfragen stellten. Doch dann sind wir irgendwo auf unserem Weg proletarisiert worden – auf ähnliche Weise, wie die Handwerker, die noch das vollständige Produkt anfertigen konnten, durch die kapitalistische Fabrikation proletarisiert und zu Arbeitern gemacht wurden, die nur noch die Einzelteile herstellten und sich des Ganzen nicht einmal mehr bewusst waren. Der Vorgang, in dessen Zuge sich die menschliche Gesellschaft in einzelne Blasen unterteilt, ist der Prozess einer unvorstellbaren, totalen Proletarisierung. Wir ziehen uns in unsere Blasen zurück, machen es uns bequem in der abgesonderten


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