Übungen im Fremdsein. Olga Tokarczuk
Körper besiedeln doch weiterhin deine »Nachbarvölker«: Bakterien, Pilze, Viren und Archäone. Die meisten sind in den dunklen Winkeln unserer Eingeweide zu finden. Die derzeitige Corona-Pandemie bedient genau diese Horrorvorstellung – dass der menschliche Körper von anderen Wesen »kolonisiert« werden kann. Das klingt unfassbar und vollkommen revolutionär, wurden wir doch bislang von Philosophie und Psychologie monadisiert: Der Mensch als Monade, als »ins Sein geworfenes« Einzelwesen thronte einsam als »Krone der Schöpfung« über einem Königreich von Pflanzen und Tieren. Dieses Bild dominierte unsere Vorstellung und Selbstwahrnehmung. Beim Blick in den Spiegel sahen wir den reflektierten, denkenden Eroberer, eine von der Welt isolierte, häufig einsame und tragische Figur. Vor uns erschien das Gesicht eines weißen Mannes, und aus irgendeinem Grund stimmten wir der Aussage »Der Mensch – das klingt stolz« zu. Heute wissen wir, dass jener grandiose Homo sapiens nur zu 43 Prozent er selbst ist. Der Rest besteht aus diesem lächerlichen Kroppzeug, das man sich bisher leicht mit Antibiotika und Pestiziden vom Leib halten konnte. Das langsam entstehende Bewusstsein, dass wir komplex und abhängig von anderen Geschöpfen, ja sogar Teil eines biologischen »Multiorganismus« sind, bringt uns dazu, eher in Kategorien des Schwarms, der Symbiose, der Kooperation zu denken.
Ich denke, die Sünde, für die wir aus dem Paradies vertrieben wurden, war nicht Sex, sie war auch nicht Ungehorsam, ja nicht einmal die Entdeckung göttlicher Geheimnisse – unsere Sünde war ebenjene Selbstwahrnehmung als monolithische, vom Rest der Welt getrennte Einzelwesen. Wir haben uns abgesondert, uns aus dem Zusammenspiel der wechselseitigen Verbindungen ausgeklinkt. Das Paradies verließen wir unter dem gestrengen Blick eines ebenso von der Welt getrennten, monolithischen, monotheistischen Gottes (angesichts der derzeitigen Situation juckt es mich in den Fingern, ihn metaphorisch einen »Gott mit Mund-Nasen-Schutz und Handschuhen« zu nennen), und von da an pflegten wir die Werte jenes Standes: das Streben nach einer mythologisierten Integration, nach Ganzheit, die Egoisierung, den Monolithismus, den Monismus, das analytische, separierende Denken nach dem Entweder-oder-Prinzip (»Du sollst keine anderen Götter neben mir haben«), den Monotheismus, die Unterscheidung, Bewertung, Hierarchie, Abgrenzung, Absonderung, die strikte Schwarz-Weiß-Unterteilung, den Gattungsnarzissmus. Zusammen mit jenem gestrengen Gott gründeten wir eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung, die die Welt und unser Gewissen monopolisierte und zerstörte. Und infolgedessen war es uns nicht mehr möglich, die faszinierende Komplexität dieser Welt zu verstehen.
Die traditionelle Wahrnehmung des Wesens Mensch unterliegt heute einem drastischen Wandel – nicht nur aufgrund der Klimakrise, der Epidemie und der Entdeckung, dass die wirtschaftliche Entwicklung ihre Grenzen hat, sondern auch wegen unseres neuen Spiegelbildes: Das Bild des weißen Mannes, des Eroberers mit Anzug oder Tropenhelm, verblasst allmählich und verschwindet; stattdessen sehen wir so etwas wie Giuseppe Arcimboldos gemalte Gesichter – organische, vielfach verschachtelte, hybride Antlitze, bei denen man mehrmals hinschauen muss, die eine Synthese aus biologischen Kontexten, Entlehnungen und Bezügen bilden. Wir sind keine Bionten mehr, wir sind ein Holobiont, also ein Komplex verschiedener, miteinander in Symbiose lebender Organismen. Komplexität, Vielheit, Verschiedenartigkeit, gegenseitige Beeinflussung, Metasymbiose – das sind die neuen Perspektiven, aus denen wir die Welt betrachten. Ebenfalls im Verschwinden begriffen ist ein bestimmter, bis vor Kurzem noch fundamental erscheinender Aspekt des alten Systems: die Unterteilung in zwei Geschlechter. Heute erkennt man immer klarer, dass die menschliche Geschlechtlichkeit eine Art Kontinuum mit unterschiedlich stark hervortretenden Eigenschaften ist und nicht deren polare Gegenüberstellung. Jede/r kann hier seinen/ihren individuellen Platz finden. Welche Erleichterung!
Diese neue, komplexitätsbasierte Perspektive betrachtet die Welt nicht als hierarchisch aufgebauten Monolithen, sondern als Vielheit und Verschiedenartigkeit, als eine lockere organische Netzstruktur. Das Wichtigste ist aber, dass wir uns selbst innerhalb dieser Perspektive zum ersten Mal als komplexe und vielschichtige Organismen wahrzunehmen beginnen – dahingehend wirkt auch die Entdeckung von Biom und Mikrobiom mit ihrem überwältigenden Einfluss auf unseren Körper und unsere Psyche, auf die Gesamtheit dessen, was wir »Mensch« nennen. Ich vermute, dass die psychologischen Konsequenzen eines solchen Zustands sich als erstaunlich erweisen werden. Vielleicht kehren wir zur Auffassung von der menschlichen Psyche als einem Gefüge vieler Schichten und Strukturen zurück. Vielleicht fangen wir an, Persönlichkeit als Vielheit wahrzunehmen, und scheuen uns nicht mehr, multiple Persönlichkeiten als völlig normal und natürlich anzuerkennen. Im gesellschaftlichen Raum könnten dezentralisierte, netzartig organisierte Strukturen eine Aufwertung erfahren, während der hierarchische, auf dem ausgrenzenden Nationalgedanken gründende Staat zu etwas völlig Anachronistischem wird. Und vielleicht können irgendwann die monotheistischen Religionen mit ihrer starken Tendenz zu gewalttätigen Fundamentalismen die veränderten Bedürfnisse des Menschen nicht mehr befriedigen und fangen an, sich zu »polytheisieren«. Denn angeblich passt ja der Polytheismus viel besser zur Idee der Demokratie.
Heute ist jene traditionelle, raffinierte Konstruktion eines vom Rest der Welt sich abhebenden Menschen im Zerfall begriffen. Ich stelle mir das so vor, wie wenn ein mächtiger, morscher Baum sich langsam zu Boden neigt. Dieser Baum hört schließlich nicht auf zu existieren – lediglich sein Zustand durchläuft eine Veränderung. Von nun an wird er zum Ort noch intensiveren Lebens: andere Pflanzen beginnen auf ihm zu keimen, Pilze und Saprophyten besiedeln ihn, Insekten und Tiere richten sich Höhlen ein. Und auch der Baum selbst wird wiedergeboren aus seinen eigenen Trieben, Samen, Wurzeln.
Viele Welten an einem Ort
Noch niemals in der Geschichte der Menschheit waren wohl die Abstände zwischen den Generationen so groß wie heute. Damit meine ich die tiefen Gräben, die sich infolge der Entwicklung von künstlicher Intelligenz und der lawinenartigen Veränderungen beim Zugang zu Informationen aufgetan haben. Es sieht ganz danach aus, als hätte sich die menschliche Gesellschaft in Generationenzonen aufgeteilt, die sich in ihrer Sicht auf die Welt, ihrem Wissen, in der Verwendung und Beschaffenheit ihrer Sprache, ihren Fähigkeiten, ihrer Mentalität, ihrer politischen Teilnahme und ihren Lebensentwürfen unterscheiden. Während einerseits die Unterschiede zwischen den Kulturen und Ethnien in unserer Welt, die einen rasend schnellen Globalisierungsprozess durchläuft (jedenfalls galt das bis zur Pandemie), sich sukzessive verwischten und verschwanden und alles immer ähnlicher wurde, vertieften sich andererseits die Gräben zwischen den Generationen. Immer klarer und lauter wird der Konflikt zwischen Alt und Jung verbalisiert; besonders erkennbar wird dies nun in der Pandemie, die durch die altersbedingten Unterschiede bei der körperlichen Widerstandskraft gegen das Virus zusätzlich dämonisiert wird. Ähnliche Ungleichheiten haben sich allerdings auch schon früher gezeigt, bei den Klimaveränderungen und der Notwendigkeit ihrer Eindämmung. Auch hier traten die Jüngeren gegen die Älteren auf und warfen ihnen – zu Recht – einen Mangel an perspektivischem Denken und konkreten Verbesserungsplänen vor. Diese Kluft ist jedoch nicht nur Ausdruck eines Konflikts zwischen Alt und Jung, sondern auch einer eigentümlichen Unstimmigkeit der verschiedenen Altersgruppen von Menschen im selben geographischen Raum. Enkel und Großeltern haben heute weniger gemeinsam als in früheren Zeiten die Einwohner von New York und Sandomierz. Und bei Urenkeln und Urgroßeltern müsste man zur Veranschaulichung wohl auf interplanetare Entfernungen zurückgreifen … Die einzelnen Generationen verwenden heute nicht nur ihre eigenen Sprachen, sondern auch ihre eigenen Alltagsrituale mit jeweils spezifischen Konsumptionsmustern und Lebensstilen. Sie haben eigene Vorstellungen von der Zukunft und sind auf andere Weise von ihr abhängig, ihr Bezug zur Vergangenheit ist ein anderer, ebenso ihr Verhältnis zur Gegenwart. Die Enkel sitzen über immer neuen Apps, die Großeltern vor ihren Lieblingssendungen im Fernsehen. Internetblasen dringen ein ins reale Leben, was dort besonders deutlich hervortritt, wo es die Älteren betrifft. Eine eigentümliche Erfahrung waren für mich die »Seniorenstunden«, die in Polen während der Pandemie festgelegt wurden: An den Vormittagen zwischen neun und zwölf sah man nur Menschen ab fünfundsechzig auf die Straße gehen und ihre Einkäufe erledigen. An den Nachmittagen wiederum standen nur Dreißig- bis Vierzigjährige Schlange vor den Supermärkten. Der Anfang einer Dystopie …
Der Zerfall der Bevölkerung in verschiedene »Stämme« je nach Generationszugehörigkeit veranschaulicht, wie viele Realitäten sich in ein und demselben Raum befinden. Sie verzahnen, überschneiden, stimulieren sich gegenseitig – und bleiben dennoch strikt