Übungen im Fremdsein. Olga Tokarczuk
Innerhalb von drei Tagen kann man hingelangen, wohin man nur will (mit wenigen, mäßig interessanten Ausnahmen). Die weißen Flecke auf den Landkarten wurden von Google Maps bis zum Rand ausgefüllt, die Karten bilden mit grausamer Genauigkeit selbst die hintersten Winkel ab. Außerdem gibt es überall nur das Gleiche – die gleichen Dinge, Artefakte, Denkweisen, Währungen, Marken, Logotypen. Das Exotische und das Außergewöhnliche sind Mangelware und lassen sich häufig im Alltag gar nicht mehr finden; sie werden zu reinen Gadgets – wie in jenem Ostseebad, in dem ein direkt aus Thailand importiertes komplettes Thai-Restaurant aufgebaut wurde, oder auf dem flachen Land mitten in Europa, wo sich in einer gigantischen Halle eine imitierte Tropenlandschaft erstreckt.
Mit dem mobilen Endgerät in der Hand oder auf dem Schoß lässt sich immer und überall mit der Familie Kontakt halten, und sei sie Tausende von Kilometern entfernt, befinde sich in einer anderen Klimazone, herrsche bei ihr eine andere Tages- oder gar Jahreszeit. Ein Tourist in Tibet kann sich innerhalb von Sekunden mit seinem Zuhause im polnischen Skaryszewo verbinden. Menschen, die früher nie eine Chance gehabt hätten, einander kennenzulernen, können heute über Medien kommunizieren. Für unsere fünf Sinne ist die Welt – ich sage es noch einmal – klein geworden. Nichtsdestoweniger ist der Anblick der Erdkugel auf einem Foto aus dem All, aufgenommen von Menschenhand, atemberaubend und ergreifend. Eine kleine blaugrüne Kugel schwebt über einem unendlichen Abgrund. Zum ersten Mal in der Geschichte nehmen wir unseren Platz planetarisch wahr – als fest umrissen, zerbrechlich und leicht zu zerstören.
Hinzu kommt der Eindruck von Überfüllung, begrenztem Raum, Enge, der immerwährenden Anwesenheit anderer Menschen – der Eindruck der Endlichkeit unserer erlebten Welt mündet in ein klaustrophobisches Gefühl. Wen wundert’s, dass neuerdings der Traum vom Reisen ins Weltall wieder erwacht, der Traum, das alte wohlbekannte, enge und vollgestopfte Haus einfach zurückzulassen. Der Eindruck einer schrumpfenden und endlichen Welt verstärkt sich noch durch die Anbindung ans Internet und die allgegenwärtige Überwachung. O ja, denn wir leben bereits in einem Panoptikum – immerfort werden wir gesehen, beobachtet und analysiert. Das Gefühl der Endlichkeit banalisiert alles, denn nur das, was sich unserer Erkenntnis entzieht, kann unsere Begeisterung wecken und sich seinen wundersam geheimnisvollen Status bewahren.
Sesamische Welt
Unendlichkeit aber betrachten wir häufig als Chaos, da sie uns nicht gestattet, unsere bewährten Erkenntnismaßstäbe an sie anzulegen, ihr eine Struktur zu geben. Karten der Unendlichkeit gibt es nicht. Auch den Menschen verwirft sie als Maß aller Dinge.
Wünscht jemand wieder Unendlichkeit zu erfahren, so braucht er sich nur ins Internet einzuloggen. Hier lehrt ihn das starke Gefühl eines Zuviel an Welt eine Art resignierter Zurückhaltung – ich gehe meines Weges und lerne, einen Bogen um die überall winkenden Attraktionen zu machen; wie Lot bin ich, der aus dem brennenden Sodom flieht und dessen Wille stark genug ist, dass er sich – im Gegensatz zu seiner neugierigen Frau – nicht noch einmal umdreht.
Heute wird diese fast mit einer Katatonie vergleichbare Art der Erstarrung vor dem Bildschirm auch als Lot’s Wife Syndrome bezeichnet. Dieses Syndrom betrifft Millionen von Jugendlichen und Incels, die, besonders jetzt, in den Zeiten der Pandemie, allen Warnungen zum Trotz auf die brennenden Städte starren und ihren Blick nicht mehr abwenden können. Wenn ich auf der Suche nach Informationen im Internet surfe, habe ich oft das Gefühl, auf einem riesigen Ozean an Daten zu treiben, die sich zudem ständig selbst neu erschaffen und kommentieren. Derjenige, der das Verb »surfen« für die Internetsuche geprägt hat, verdient es, ein Genie genannt zu werden: Das Bild eines Menschen, der sich, einsam und allein, mit einem schmalen Brett auf den Wellenkämmen eines aufgepeitschten Ozeans zu halten versucht, trifft hier den Nagel auf den Kopf. Der Surfer wird von den Elementen fortgetragen, während er selbst seine Strecke nur in begrenztem Maße beeinflussen kann – er ergibt sich der Energie und der Bewegung der Wellen. Dieses Gefühl, lediglich der Spielball einer vom eigenen Willen unabhängigen Bewegung zu sein und somit gelenkt zu werden, sich einer Kraft von mysteriöser Gleichgültigkeit unterzuordnen, holt den alten Begriff des Fatum aus der Vergessenheit hervor, den wir heute bereits anders verstehen – als ein Netz der Abhängigkeit von anderen, als Übernahme von Verhaltensmustern nicht nur im biologischen, sondern auch im kulturellen Sinne, und die Folge davon ist der lebhafte und sich wohl noch intensivierende Identitätsdiskurs.
Die neue Unendlichkeit trat in die Welt des homo consumens, als diese Welt einem Sesam zu ähneln begann. Wir befahlen: »Sesam, öffne dich!«, und – es geschah! Der Sesam öffnete sich und überschüttete uns mit einer Fülle an Diensten, Waren, Typen, Mustern, Varianten, Arten, Moden, Trends. Ein jeder von uns hat wohl wenigstens einmal diese märchenhafte Vielfalt an Angeboten erlebt – und den beunruhigenden Verdacht, man bräuchte mehrere Leben, um sie auszukosten.
Und so reduzierte sich unser Leben quasi unbemerkt auf die Konsumption – den Erwerb von Waren, die Buchung von Dienstleistungen aus dem unerschöpflichen Angebot. In einer Erzählung des genialen Philip K. Dick können die von einer durchgedrehten Intelligenz gesteuerten Fabriken ihre Produktion nicht mehr stoppen, sodass für eine unendliche Zahl programmierter Waren der ideale Käufer geschaffen werden muss, ein vom Kosmos an Gütern hypnotisierter Superkonsument, ein Kunde, zu dessen Lebenssinn es werden soll, alle erdenklichen Varianten dieses oder jenes Produkts zu probieren, die Güte verschiedener Marken abzuwägen – von Lippenstiften, Gadgets, Parfüms, Kleidung, Autos, Toastern, wobei ihm spezielle Programme und Zeitschriften als Entscheidungshilfen dienen.
Diese Version, so futuristisch sie in den sechziger Jahren auch erscheinen mochte, ist schneller eingetreten als gedacht. Heute ist sie eine Beschreibung unseres Hier und Jetzt.
Dasselbe betrifft auch unsere Konsumption intellektueller Güter. Die Bestände virtueller Bibliotheken sind unendlich geworden – sitzt man am Computer, gewinnt man leicht den Eindruck, sich in einem Sesam zu bewegen, dessen Reichtum sich beim besten Willen nicht mehr erfassen lässt – weder die Fülle an Autoren noch an Titeln noch an Schlagwörtern. Ich finde es erschreckend, mir zu vergegenwärtigen, dass in derselben Zeit, in der ich diese Worte niederschreibe, Hunderte, wenn nicht Tausende anderer Artikel, Gedichte, Romane, Essays, Reportagen und Ähnliches entstehen. Die Unendlichkeit reproduziert sich selbst, sie dehnt sich immer weiter aus – und wir mühen uns, sie mit unseren gebrechlichen Suchmaschinen zu durchmessen, um das Gefühl zu wahren, noch immer die Kontrolle zu besitzen.
Meine Generation kommt damit besonders schlecht zurecht – sind wir doch in Zeiten des Mangels aufgewachsen, und viele von uns häufen Vorräte »für eine Krise«, »für eine Inflation« an. Das ist der Grund, warum mein Mann Zeitungen sammelt und Ausschnitte aufbewahrt, und es ist der Grund, warum er im Gefühl einer Mission, vergleichbar mit der göttlichen Weisung an Noah, Holzregale für Papierbücher zimmert. Unsere und die vorangehenden Generationen sind darauf gepolt, JA, JA, JA zur Welt zu sagen. Wir dachten uns: Ich probiere dies und das, fahre hierhin und dann dorthin, erlebe dies und jenes. Ich nehme dieses hier, und – kann ja nicht schaden – das da nehme ich auch noch.
Und nun taucht eine Generation an unserer Seite auf, die begreift, dass es in der neuen Situation die menschlich und ethisch wertvollste Entscheidung ist, sich im NEIN, NEIN, NEIN zu üben. Ich gebe dies und jenes auf. Beschränke das hier und das. Dies hier brauche ich nicht. Will ich nicht. Lasse ich lieber …
Mein Name ist Million
Eine der wichtigsten Entdeckungen der letzten Jahre – Entdeckungen, die Einfluss hatten auf die Selbstwahrnehmung des Menschen als Wesen – war ganz sicher die Feststellung, dass der menschliche Organismus, dass Organismen allgemein – also auch die von Tieren und Pflanzen – in ihrer Entwicklung und Funktionsweise mit anderen Organismen zusammenwirken, dass die Organismen somit in gegenseitiger Abhängigkeit verbunden sind. Aus der biologischen und medizinischen Forschung – hier ist zuallererst Lynn Margulis’ bahnbrechende Erkenntnis zu nennen, dass Symbiose und die Verbindung von Organismen untereinander als Motor für die Evolution und die Entstehung der Arten fungierten – wissen wir, dass wir eher kollektive als individuelle Wesen sind, eher eine Republik vieler verschiedener Organismen als ein Monolith, als eine hierarchisch strukturierte Monarchie. Dein Körper, das bist nicht nur DU – der Mensch hat lediglich 43 Prozent