Übungen im Fremdsein. Olga Tokarczuk
gesichert halten. Die Resultate dieser plutonischen Revisionen erweisen sich meist als schockierend.
Das Leben der Tiere ist ein in vielerlei Hinsicht besonderes Buch. Bemerkenswert ist vor allem die Geschichte seiner Entstehung. Als der bekannte Schriftsteller J.M. Coetzee eines Tages zu einem Vortrag über ein beliebiges Thema an die ehrenwerte Princeton University eingeladen wird, verfasst er keinen Vortrag, sondern eine Novelle über eine fiktive Schriftstellerin, die zu zwei Vorträgen an eine andere ehrenwerte Universität kommt. Auf diese Weise wird Elizabeth Costello ins Leben gerufen, eine anerkannte siebzigjährige Autorin. Costello ist fortan mindestens ebenso real wie Coetzee – der Autor. Eigentlich ist sie sogar realer, weil die Fiktion in gewisser Hinsicht mächtiger ist als die Wirklichkeit und ihre Figuren echter sind als die lebenden Menschen. Das ist das große Geheimnis der Literatur. Coetzee – ein Meister der Distanz – weiß das genau und tritt aus dem eigenen Vortrag zurück in den Schatten, hinter die Kulissen der Bühne, die er vor unseren Augen errichtet.
In ihren Vorträgen spricht Elizabeth Costello über Tiere, obwohl das Publikum eher ein literarisches Thema erwartet. Wir verfolgen die Auftritte der Schriftstellerin wie reale Ereignisse, wir verfolgen ihre Gedankengänge, aber dank unserer bevorzugten Stellung als Leser erfahren wir darüber hinaus auch etwas über den psychologischen und biographischen Hintergrund der Vorträge. Coetzee scheint zu sagen, man könne die Ansichten eines Menschen nicht von ihm selbst trennen; die Auffassungen und Überzeugungen einer Person ließen sich nur im Zusammenhang betrachten, im Gesamtbild dessen, was diese Person ausmache – ihre Beziehungen zur Welt, ihre Emotionen, ihre Taten. Entgegen dem, was an den Universitäten gelehrt werde, und entgegen der mächtigen Institution der nach maximaler Objektivität strebenden Wissenschaft müsse deshalb jede Artikulation von Ansichten subjektiv bleiben. Unsere Kommunikation sei bedeutungsvoll und tiefgründig, insofern sie ein Austausch von Subjektivem und somit nicht restlos Kommunizierbarem bleibe. Und er sagt weiter: Nur die literarische Fiktion vermöge die Subjektivität des Menschen (und zugleich sein Gesamtbild) wiederzugeben, nur die Fiktion mit ihren Möglichkeiten, eine ganze Person aufzubauen, sei den Argumenten des Verstandes (und somit der traditionellen Form des akademischen Vortrags) überlegen.
Die Protagonistin des Buchs ist eine ältere Frau, eine Schriftstellerin, die zu Ruhm gekommen ist und sich nun in einer Lebensphase befindet, in der man eher Dinge, die einem wichtig sind, zu Ende bringt und resümiert, als Neues zu beginnen. Dass sie die Einladung zu den Vorträgen annimmt, entspringt wahrscheinlich ihrem Bedürfnis, über Fragen zu sprechen, die ihr persönlich bedeutsam sind, zu sagen, was sie fühlt und denkt, ohne Rücksicht auf den Eindruck, den sie auf andere macht, oder auf das Prestige. Deshalb gestattet sie sich eine radikale Haltung und schreckt weder vor Pathos noch vor dramatischen Vergleichen zurück. Die Themen ihrer Vorträge – »Die Philosophen und die Tiere« und »Die Dichter und die Tiere« – dienen ihr letztlich als Vorwand, einen sehr persönlichen, emotionalen und von Empörung getragenen Standpunkt zur jahrhundertealten Tradition des menschlichen Umgangs mit anderen Lebewesen zu formulieren. Wie kann es sein, dass wir die Grausamkeiten, die wir ihnen unablässig zufügen, nicht sehen und nicht darauf reagieren? Worin gründet die rationale Unterscheidung zwischen Mensch und Tier, was sind ihre philosophischen Prämissen, und können wir diesen überhaupt vertrauen, wenn sie uns gleichgültig machen gegen offensichtliche Tatsachen?
Der Mensch habe den Krieg mit den Tieren gewonnen, sagt Costello. Sie seien heute unsere Gefangenen und Sklaven, denen wir – um diesen abscheulichen Zustand zu legitimieren – ihre Rechte als Subjekte genommen hätten. Wir bedienten uns dabei des Verstandes, den wir den Tieren konsequent absprechen. »Natürlich wird der Verstand sich selbst zum obersten Prinzip des Universums erklären – was sollte er auch sonst tun?«[2], fragt Costello. »Sowohl der Verstand als auch sieben Jahrzehnte Lebenserfahrung sagen mir, dass die Vernunft weder das Wesen des Universums noch das Wesen Gottes ist. Nein, die Vernunft sieht mir verdächtig nach dem Wesen des menschlichen Denkens aus; schlimmer noch, nach dem Wesen einer bestimmten menschlichen Denkweise.«[3]
Wie der menschliche Verstand sein Territorium ebnete und absteckte, zeigt Costello am Beispiel der 1917 von Wolfgang Köhler durchgeführten Pionieruntersuchungen an Schimpansen. Die Schriftstellerin versucht, sie neu zu interpretieren, indem sie sie nicht aus der Sicht des Menschen, sondern aus der Sicht des untersuchten Affen betrachtet. Auf diese Weise entlarvt sie die verborgenen – und sicher unbewussten – anthropozentrischen Prämissen dieser Forschungen, deren Wert dadurch völlig infrage gestellt wird. Wir wissen nicht, ob Affen einen Verstand haben oder nicht und ob er wie unserer beschaffen ist oder gänzlich anders. Doch selbst, wenn er anders beschaffen wäre – würde das unsere Taten rechtfertigen?
Die beiden Vorträge sind nicht nur eine Reflexion über die philosophischen Argumente, die dem westlichen Verhältnis zu den Tieren zugrunde liegen, und nicht nur eine Umdeutung ethologischer Studien. Coetzee fordert, wie ich glaube, durch Costellos Mund eine Aufwertung zweier vergessener, unterschätzter und marginalisierter Weisen der Welterfahrung: der Einsicht und der Empathie. Er erhebt sie in den Rang gleichberechtigter, dem Menschen vielleicht sogar angemessenerer Instrumente der Erkenntnis.
In der letzten Szene der Novelle fragt Elizabeths Sohn, während er sie zum Flughafen bringt, warum sie begonnen habe, sich derart intensiv mit den Rechten der Tiere zu befassen. Ihre Antwort ist vage und beunruhigend: »Eine bessere Erklärung dafür ist, dass ich dir den Grund […] nicht zu sagen wage […]. Wenn ich an die Worte denke, kommen sie mir so ungeheuerlich vor, dass sie am besten in ein Kissen gesprochen werden oder in eine Grube, wie in der Geschichte vom König Midas. […] Ist es denn möglich, frage ich mich, dass sie alle an einem Verbrechen unvorstellbaren Ausmaßes teilhaben? Phantasiere ich mir das alles zusammen? Ich muss wohl verrückt sein! Aber tagtäglich sehe ich die Beweise. Eben die Leute, die ich verdächtige, liefern den Beweis, stellen ihn zur Schau, bieten ihn mir an. Leichen. Leichenteile, die sie mit Geld gekauft haben. […] Doch ich träume nicht. Ich schaue in deine Augen, in Normas Augen, in die Augen der Kinder, und ich sehe nur Freundlichkeit, menschliche Freundlichkeit.«[4]
Costello scheint zu den Menschen zu gehören, die gesehen haben und sich bewusst geworden sind, oder vielleicht sollte man besser sagen, die das grundlegende, entsetzliche Wesen der Welt erkannt haben, denn das Wort »erkennen« impliziert einen singulären Wahrnehmungsakt. Es ist erstaunlich, dass wir den Horror im Alltag übersehen, dass er uns verborgen bleibt, dass wir nicht in Grauen erstarren. Wirken die Abwehrmechanismen so stark – die alltäglichen, pragmatischen Argumente, aber auch die philosophischen, die wir unter anderem bei Descartes und Thomas von Aquin finden? Ist es vielleicht die typisch menschliche Furcht vor Erschütterungen, die gewohnheitsmäßige perzeptive Trägheit, der Mangel an Reflexion, die Bequemlichkeit der Ignoranz? Es genügt uns, dass die gegebene Welt ist, wie sie ist. Doch unsere perzeptive Passivität hat eine moralische Dimension – sie verstetigt das Böse. Wenn wir uns dem Erkennen verweigern, werden wir zu Komplizen des Bösen, zu Mitschuldigen. Die moralische Anstrengung ist also im Grunde eine kognitive – wir müssen auf neue, schmerzliche Weise erkennen.
Wer einmal das ganze Grauen gesehen hat, das die Menschen den Tieren bereiten, wird nie wieder ruhig bleiben. »Rings um uns herrscht ein System der Entwürdigung, der Grausamkeit und des Tötens, das sich mit allem messen kann, wozu das Dritte Reich fähig war«[5], sagt Costello. Dieser Vergleich ruft umgehend Protest und Empörung hervor, doch Costello verteidigt sich nicht.
Der für Entrüstung sorgende Holocaust-Vergleich bezieht sich sowohl auf die Gleichsetzung der Massentötung von Tieren mit der Vernichtung der Juden als auch auf die Frage nach der Rolle der stummen Zeugen des Verbrechens, die zwar nicht mit eigenen Händen mordeten, aber schweigend danebenstanden – Deutsche, Polen, Amerikaner, Briten und alle, die nicht glauben wollten, was sie auf Fotografien sahen.
Einsicht ist die plötzliche, umfassende und spontane Vergegenwärtigung des Wesens dessen, was wir wahrnehmen. Sie ist eine besondere Art der Wahrnehmung – vielschichtig und simultan. Das Was, Wo, Wie, Warum und Zu-welchem-Zweck fallen in eins zusammen; es ist ein zugleich intellektuelles, emotionales und intuitives Erkennen.
Die Einsicht ist einmalig. Sie ist ein Moment, hat aber ihre Konsequenzen in der Zeit – es gibt kein Zurück zum vorherigen Zustand. Das neue Bewusstsein kann schmerzlich und schrecklich sein, es kann die Erfahrung eines Grauens bedeuten,