Fallout. Fred Pearce
Zu den verwendeten Maßeinheiten
Die Maßeinheiten der Atomwissenschaft sind ein wahrer Albtraum; als hätte man sich untereinander verschworen, mit Becquerel (und auch Kilo-, Mega-, Giga-, Tera- und sogar Petabecquerel), Rem, Rad, Sievert, Curie, Röntgen, Gray und Coulomb alles möglichst kompliziert zu machen. Was bezeichnen all diese Einheiten überhaupt?
Letztlich werden meistens nur zwei Dinge gemessen: erstens die Menge an Radioaktivität, die bei einem Unfall frei geworden ist oder auch von einer bestimmten Boden-, Wasser- oder Luftmenge ausgeht. Und zweitens die Strahlendosis, die von einem lebenden Organismus wie Ihnen aufgenommen wird. Im zweiten Fall wird es häufig kompliziert, weil uns die verschiedenen Strahlungsarten radioaktiver Stoffe (Alpha-, Beta- oder Gammastrahlung) auf unterschiedliche Weise erreichen. Wir können eine Dosis durch äußere Strahlenexposition erhalten, wenn wir uns in einer radioaktiv belasteten Umgebung bewegen, oder durch innere Strahlenexposition, wenn wir radioaktives Material eingeatmet oder mit der Nahrung aufgenommen haben.
Wenn ich im Folgenden etwa den Unterschied zwischen dem Maß für »absorbierte Strahlendosen« und »Strahlenexposition« ignoriere, werden einige Puristen vermutlich nervös. Aber ich habe beschlossen, alles so einfach wie möglich zu halten. Ich habe mich auf eine Maßeinheit für Radioaktivität und auf eine andere für eine bestimmte erhaltene Strahlendosis festgelegt und lasse den ganzen statistischen Hokuspokus einfach bleiben.
Im Fall der frei gewordenen Radioaktivität habe ich mich für Curie entschieden. Das ist eine alte, aber noch immer verbreitete Maßeinheit. Manche Wissenschaftler ziehen Becquerel vor. Ein Becquerel ist jedoch so winzig, dass wir dabei schnell ins Reich der Giga-, Tera- und Peta-Größen geraten. Das finde ich furchtbar. Es ist, als würde man die Strecke einer Autofahrt in Zentimetern angeben. Ein Curie entspricht sagenhaften 73 Milliarden Becquerel. In den meisten Fällen ist die Einheit Curie pragmatischer; daher also Curie. In ganz seltenen Fällen, wenn es um winzige Konzentrationen geht, habe ich auf Picocurie zurückgegriffen – also den billionsten Teil eines Curie.
Bei Strahlendosen habe ich mich für die moderne Maßeinheit der – wie Radiologen sagen – »effektiven Dosis« entschieden, die entsprechend gewichtet ist, um den unterschiedlichen Schäden, die unterschiedliche Strahlungsarten verursachen, Rechnung zu tragen. Diese Einheit heißt »Sievert«. Ein Sievert ist schon eine größere Sache. Bereits eine Strahlendosis von vier Sievert wird Sie wahrscheinlich das Leben kosten. Die Einheit »Millisievert«, also ein Tausendstel Sievert, eignet sich für unsere Zwecke gut. Daher verwende ich sie im ganzen Buch. Geigerzähler messen die Strahlendosis meistens in Mikrosievert pro Stunde. In der Regel habe ich die Werte, wenn es für die Aussage keine Rolle spielt, in Millisievert pro Jahr umgerechnet.
Als Daumenregel gilt also, dass eine Strahlendosis von 4.000 Millisievert in der Regel tödlich ist. Von 1.000 Millisievert bekommt man wahrscheinlich Verbrennungen und eine Reihe anderer potenziell tödlich wirkender Symptome, die zusammengefasst als akute Strahlenkrankheit bezeichnet werden. 100 Millisievert hingegen ist die geringste Dosis, bei der es ernst zu nehmende Anhaltspunkte für Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit gibt, etwa eine erhöhte Krebsrate innerhalb der Bevölkerung. Zum Vergleich: Auf rund zwei bis drei Millisievert beläuft sich die typische Jahresdosis durch natürliche Strahlenquellen; ähnlich hoch ist auch die Dosis bei einer Mammografie. Ein Millisievert pro Jahr gilt als maximale vertretbare Strahlendosis durch Kraftwerke und andere nicht-medizinische Strahlenquellen für die allgemeine Bevölkerung.
Außerdem habe ich alle Währungs-Angaben in US-Dollar umgerechnet. Zum Zeitpunkt der Umrechnung war ein Euro 1,15 Dollar und ein Pfund 1,30 Dollar wert. Die ursprünglichen Summen gehen häufig aus den im Anhang aufgeführten Quellen hervor.
Einleitung
UNTERWEGS INS ANTHROPOZÄN
An einem sonnigen Morgen im September 1957 fuhr im Vorgebirge des Urals, der Gebirgskette, die das europäische Russland von Sibirien trennt, ein Konvoi Militärlastwagen eine schmale Straße am Ufer eines Sees hinunter. In dem kleinen Dorf Satlykowo hielt er an. Soldaten der Roten Armee klopften an die Türen und befahlen den wenigen Hundert Einwohnern, sich zu entkleiden, die Ersatzkleidung aus den Wagen überzuziehen und einzusteigen. Die Dorfbewohner wurden evakuiert. Ihr Eigentum durften sie nicht mitnehmen, nicht einmal Geldscheine. In aller Eile ließen sie ihren weltlichen Besitz zurück, und um ihre Rückkehr zu verhindern, rissen die Soldaten ihre Häuser nieder und erschossen Haustiere und Vieh.
Gründe für die Evakuierung nannten die Soldaten nicht. Selbst wenn sie informiert gewesen wären, hätten sie nicht preisgeben dürfen, dass es eine Woche zuvor in den Abfalltanks der größten russischen Plutoniumfabrik in der nahe gelegenen geschlossenen Stadt, die heute Osjorsk heißt, eine Explosion gegeben hatte. Sie durften auch nicht erklären, dass die seltsame dunkle Wolke, die sich nur Stunden danach auf Satlykowo herabgesenkt hatte, lebensbedrohlichen Fallout aus dem Unfall enthielt.1 Höchstwahrscheinlich war er verantwortlich für den Tod der zehn Monate alten Tochter von Iran Chaersamanow, die nach dem Erscheinen der Wolke mit ihrer Großmutter im Garten gewesen war, anschließend schweren Durchfall bekam und wenige Stunden später starb. Sie war die Letzte, die auf dem Friedhof des Dorfs begraben wurde.2
Die Soldaten konnten deshalb nichts dazu sagen, weil die bloße Existenz der Kernwaffenanlage ein Militärgeheimnis war, das nur die innerhalb der Sperrzone beschäftigten Arbeiter kannten. Kein Außenstehender durfte jemals davon erfahren.
An einem ebenso sonnigen Morgen sechzig Jahre später besuchte ich Satlykowo als erster westlicher Journalist seit dem Unfall. Ich fuhr durch ein Tor, das noch immer von bewaffneten Soldaten bewacht wurde, und folgte einer langen ausgefahrenen Straße. Den Ort fand ich, doch die Überreste der fünfundsiebzig hastig eingerissenen Häuser waren von Pflanzen überwuchert. Überall wuchsen Brennnesseln. Unmengen riesiger Libellen schwirrten durch die stickig heiße Luft. Der See jenseits der zugewachsenen Felder war voller Fische, aber niemand durfte sie fangen. In dem Wald, der sich links und rechts des Weges ausbreitete, lebten Hirsche, Wildschweine und Füchse. Er mochte radioaktiv belastet sein, war aber alles andere als eine öde Mondlandschaft.
Das war der Beginn meiner Entdeckungsreise auf der Suche nach dem radioaktiven Erbe des nuklearen Zeitalters; eines Zeitalters, das wahrscheinlich und hoffentlich bald zu Ende geht. In diesem Buch erkunde ich die unheimlichen, durch Atomunfälle verseuchten Landstriche – manche so bekannt wie Tschernobyl oder Fukushima, andere weitgehend unbekannt wie das Gebiet um Satlykowo. Ich besuche Orte, an denen im Namen der Wissenschaft oder im Krieg Atombomben abgeworfen wurden und wo heute radioaktiv belastete Wölfe umherstreifen, während kein Mensch sie zu betreten wagt. Dabei versuche ich, unsere vielfältigen individuellen und gesellschaftlichen Reaktionen auf die entfesselte Macht der Atome zu verstehen, auf die düsteren Ahnungen und auf die tatsächliche Gefahr, dass sie uns alle auslöschen könnte. Gerade dieses junge psychologische Terrain erweist sich in vielerlei Hinsicht als besonders befremdlich.
Meine Reise hat auch eine ganz persönliche Seite. Von der Kerntechnik hörte ich zum ersten Mal 1962, während der Kubakrise. Ich war zehn Jahre alt und machte mich gerade für die Schule fertig, als mein Vater mir aus heiterem Himmel mitteilte, wenn ich während der Pause eine Pilzwolke sähe, solle ich zurück ins Klassenzimmer gehen und mich unter meinem Tisch verstecken. Ich weiß noch, dass ich ganz durcheinander war, vor allem, weil ich nicht wusste, wie so eine Pilzwolke aussehen sollte. Doch während der Pause betrachtete ich eine Zeit lang den Himmel – nur für alle Fälle. Ich kann den blauen Himmel hinter dem großen Baum auf der anderen Straßenseite immer noch vor mir sehen und erinnere mich, dass ich ein bisschen enttäuscht war, als keine Pilzwolke erschien.
Die Tatsachen des Atomzeitalters waren damals für alle neu: unheimlich und irgendwie geheim – sogar für die Erwachsenen. Ich glaubte noch, Erwachsene wüssten