Fallout. Fred Pearce
widersprechen. Befürworter hingegen reagieren mit einer technikgläubigen Hybris, wie sie sich heute in anderen Bereichen kaum mehr beobachten lässt.
Nach den Recherchen zu diesem Buch habe ich mich gefragt, ob wir es jemals richtig machen können, oder ob unser Verhältnis zur Nukleartechnik unwiederbringlich zerrüttet ist. Nach mehr als sieben Jahrzehnten mit der Atomkraft sollten wir allmählich gelernt haben, sie zu verstehen. Alle Anzeichen sprechen jedoch dagegen. Nichts deutet darauf hin, dass der Fallout in unseren Köpfen wieder verschwindet.
Erster Teil
ZERSTÖRER DER WELTEN
Plötzlich war das nukleare Zeitalter da. Selbst die physikalischen Grundlagen, auf die sich die Kerntechnik stützt, waren Anfang der 1930er-Jahre noch unbekannt. Doch bereits Ende des Jahres 1945 hatten Atombomben zwei japanische Städte ausradiert und um ein Vielfaches stärkere waren in Entwicklung. Die Tests dieser »Superbomben« machten im Laufe der 1950er-Jahre Teile Zentralasiens, der Pazifikregion, der Arktis, Australiens und des nordamerikanischen Westens unbewohnbar – und kosteten viele Menschen das Leben oder ihre Gesundheit. Trotzdem faszinierte uns diese Neuheit. Der Atompilz wurde nicht nur zum Symbol der Zerstörung, sondern auch der Hoffnung. Nichts war mehr en vogue, als bei Sonnenaufgang aufzustehen und sich das jüngste Spektakel in der Wüste von Nevada anzusehen. Meine Reise zu diesen frühen Schauplätzen des Atomzeitalters beginnt – unweigerlich – in Hiroshima.
Kapitel 1
HIROSHIMA: EINE UNSICHTBARE NARBE
Am Ground Zero in der Stadtmitte von Hiroshima, dort, wo die erste Atombombe der Welt explodiert war, die alle Gebäude hinweggefegt und einen Feuersturm ausgelöst hatte und Tausende Menschen verglühen ließ, hatte ich wohl eine größere Gedenkstätte erwartet. Doch der Ort der umfassendsten Zerstörung war nur durch eine kleine Gedenktafel auf einem parkuhrhohen Marmorsockel gekennzeichnet, den man auf den Gehweg einer Seitenstraße vor die nackte Mauer neben einer Waschanlage gequetscht hatte. Es war der Gedenktag, einundsiebzig Jahre nach der Detonation. Jemand hatte ein paar Blumen abgelegt. Von der anderen Straßenseite aus sah ich zu, wie eine amerikanische Familie einige Minuten stehen blieb und die Tafel las. Die Leute machten ein Selfie für die Daheimgebliebenen, doch alle anderen gingen vorbei, ohne überhaupt Notiz zu nehmen.
Offenbar möchte sich Hiroshima von seiner Vergangenheit bewusst ungerührt zeigen. Heute hat die Stadt mehr als eine Million Einwohner, viermal so viele wie an dem Tag, als die Bombe fiel. Das riesige Mazda-Werk am Stadtrand ist zum Symbol der wirtschaftlichen Erneuerung geworden, der Hochgeschwindigkeitszug Shinkansen rast auf seinem erhöhten Schienenstrang vorbei, die Einkaufszentren sind voll von amerikanischen Markenprodukten. Die Straßenbahnen fahren noch immer auf denselben Strecken wie 1945 – ein gespenstisches Andenken an die Vergangenheit. Doch nur fünf Gebäude im gesamten Stadtzentrum von Hiroshima haben die Detonation überstanden. Sie sind bis heute erhalten. Eines davon, die alte Halle zur Förderung der Industrie mit ihrer Stahlskelettkuppel, steht am Flussufer. Sie ist heute Teil des UNESCO-Weltkulturerbes und gleichzeitig das bekannteste Symbol der Ereignisse. Hier versammeln sich die Touristen. Eine junge Frau bat mich, ein Foto von ihr zu machen, und reckte den Daumen in die Höhe, im Arm ein Kuscheltier.
Einem der anderen Gebäude, der ehemaligen örtlichen Zentrale der Bank von Japan, stattete ich einen spontanen Besuch ab. Der massige Steinbau mit seiner klassischen Fassade steht nur vierhundert Meter vom Ground Zero entfernt. Heute werden dort Kunstausstellungen gezeigt. Eine kleine Tafel erinnert daran, dass das Gebäude nicht zerstört wurde. Wie sie sachlich bemerkt, wurde »der Bankbetrieb zwei Tage nach der Bombenexplosion in vermindertem Umfang wieder aufgenommen, und andere Finanzinstitute der Stadt verlegten ihre Büros vorübergehend in das Gebäude«. Das verschlug mir die Sprache. Als es noch überall brannte, Tausende Menschen auf der Straße an der Strahlenkrankheit starben und Leichen herumlagen, war das Geschäft rund ums Geld offenbar bereits wieder im Gange. Ich liebe Japan, aber seine Menschen sind mir sehr fremd.
Etwas Vergleichbares hatte die Welt noch nicht erlebt. Am 6. August 1945 um 8 Uhr 15 morgens flog ein amerikanischer B-29-Bomber die Südküste der japanischen Insel Honshu entlang. Er warf eine einzige Bombe ab, welche die Handvoll Menschen, die zu dem Flugzeug aufsahen und anschließend davon berichten konnten, als winzigen dunklen Fleck im strahlend blauen Himmel wahrnahmen. Die Bombe trug den Codenamen »Little Boy« und war gut drei Meter lang. Sie sollte die Welt verändern.1 Zuerst stürzte sie fünfundvierzig Sekunden auf Hiroshima zu. Dann, in etwa 600 Metern – der Höhe, in der sich gemäß den Berechnungen des britischen Mathematikers William Penney die größte Zerstörungskraft entfalten würde –, schoss ein Sprengstoff-Auslöser einen Zylinder mit 38 Kilogramm Uran-235 in einen zweiten Zylinder mit 25 Kilogramm des gleichen Materials hinein. Diese Kollision löste eine rasante nukleare Kettenreaktion aus, bei der die rasch gespaltenen Uranatome enorme Energiemengen freisetzten – das Äquivalent einer Explosion von 13.000 Tonnen TNT.
Dem Bomber folgten zwei weitere Flugzeuge, bestückt mit Kameras und anderer Ausrüstung, um den Fortgang der Verwüstung zu beobachten. Es muss ein erschütterndes Bild gewesen sein. Alles begann mit einem weißen Blitz, der so hell war, dass Menschen am Boden erblindeten. In Sekundenbruchteilen schoss durch die Hitze der Explosion ein fast vierhundert Meter großer Feuerball in Richtung Boden. Bei Temperaturen von rund 7.000 Grad Celsius schmolzen Dachziegel, und menschliches Fleisch verdampfte. Nach wenigen Sekunden blieb von vielen morgendlichen Pendlern nichts als ein Schatten an einer Mauer, wo ihr Körper die Hitzestrahlung abgefangen hatte. Auf den Feuerball folgten die Druckwellen der Explosion, die Gebäude zerstörten und Straßenbahnen umstürzten, und ein Stoß radioaktiver Strahlung, die innerhalb weniger Stunden zahllose Menschen tötete.
Brände breiteten sich aus. Innerhalb von zwanzig Minuten war ein Feuersturm von drei Kilometern Durchmesser entstanden, genährt von Gas aus geborstenen Leitungen. Staub und Rauch verhüllten die Stadt. Durch das Inferno ausgelöste Wirbelwinde entwurzelten Bäume im Stadtpark, wohin sich viele, die vor dem Feuer Schutz suchten, geflüchtet hatten. Es fiel schwarzer Regen: riesige, murmelgroße Tropfen aus radioaktivem Ruß, vermischt mit Wasser.2 Drei Tage lang brannte es. Der erste Strahlungsstoß der Bombe war rasch vorbei, doch Staub und Trümmer am Boden nahe dem Detonationsort strahlten noch wochenlang. Sie verursachten Verbrennungen bei den Menschen, die sie berührten – unter ihnen Rettungskräfte –, töteten die Fische im Fluss Ota und kontaminierten die Brunnen, aus denen die Menschen ihr Trinkwasser bezogen.
Damals lebten in Hiroshima rund eine Viertelmillion Menschen. Die meisten wohnten und arbeiteten im eng bebauten Zentrum, dem gezielt ausgewählten Ort der Zündung. Etwa 60.000 von ihnen starben am ersten Tag, darunter 90 Prozent derjenigen, die sich innerhalb eines 450 Meter weiten Radius um den Ground Zero aufgehalten hatten. Im Laufe der folgenden Wochen starben weitere 40.000. Die meisten Menschen wurden durch die Detonation getötet und durch die Feuer, die durch die Stadt fegten. Fast möchte man sagen, dass sie noch Glück hatten. Andere waren horrenden Strahlungsmengen ausgesetzt – mehr als 10.000 Millisievert, wie akribische amerikanische Forscher später schätzten – und starben innerhalb weniger Tage an inneren Blutungen, Verletzungen der Organe oder Schädigungen des Immunsystems, wofür die Medizin später die Bezeichnung »akute Strahlenkrankheit« prägen sollte.
Menschen, die durch geringere Strahlendosen belastet waren, starben über einen Zeitraum mehrerer Wochen oder Monate, häufig weil ihr verstrahlter Körper kein frisches Blut mehr herstellen konnte. Wer jedoch weniger als 4.000 Millisievert erhalten hatte, überlebte in der Regel, und diese Menschen erwartete ein überraschend mildes Schicksal. Die amerikanisch-japanische Forschungskommission Radiation Effects Research Foundation geht heute davon aus, dass jemand, der an diesem Tag einer Strahlung von 150 Millisievert oder mehr ausgesetzt war, ein erhöhtes Risiko hatte, an Leukämie oder anderen Krebsarten zu erkranken.3 Das betrifft die Mehrheit der Einwohner der Stadt. Allerdings wurden bis zum Jahr 2000 nur 573 Todesfälle mehr verzeichnet, als ohnehin statistisch wahrscheinlich waren, was nur einen zusätzlichen Prozentpunkt ausmacht.4 Ebenfalls im Gegensatz zu früheren Erwartungen der Wissenschaft – und im Widerspruch zu den andauernden Befürchtungen der breiten Öffentlichkeit