Fallout. Fred Pearce
gute Nachricht gibt, dann ist es diese.
Die Bombe, die auf Hiroshima fiel, kam nicht nur für die Stadt aus heiterem Himmel, sondern im übertragenen Sinn auch für die ganze Welt. Eine Warnung gab es nicht. Einzelne Zeitungsartikel waren erschienen, in denen berühmte Physiker wie Albert Einstein zur Entwicklung von Nuklearwaffen aufriefen. Doch vor Hiroshima wussten nur wenige, dass solche Waffen bereits entwickelt, geschweige denn zum Abwurf auf eine Stadt vorbereitet wurden.
Dass selbst zu Kriegszeiten eine derart hohe Geheimhaltung fortbestehen konnte, kann man sich heute nur noch schwer vorstellen. Fünf Jahre lang hatte die US-Regierung diese Waffen im Rahmen eines gigantischen Geheimunternehmens entwickelt. Drei Wochen zuvor hatte es einen einzigen, unangekündigten Bombentest in New Mexico gegeben. Doch an dem Tag, als Hiroshima getroffen wurde, wussten selbst gut informierte Reporter nur wenig. Die Zeitungsberichte des folgenden Tages mussten einen großen Informationsrückstand ausgleichen. Der Artikel im englischen Manchester Guardian begann mit den Worten: »Japan wurde von einer atomaren Bombe getroffen, die eine 2000-mal stärkere Sprengkraft hatte als die Zehntonner, die die Royal Air Force über Deutschland abwarf […]. Britische und amerikanische Forscher haben seit mehreren Jahren daran gearbeitet.«5
Die Gesamtzahl der rund 170.000 Toten von Hiroshima und Nagasaki, dem Ort des zweiten Atombombenabwurfs, sticht in den Annalen des Krieges nicht besonders heraus. Auf dem Höhepunkt des Ersten Weltkriegs hatten bei dem belgischen Dorf Passchendaele durch ein fünf Monate andauerndes Bombardement mehr als eine halbe Million Soldaten ihr Leben verloren. In Hiroshima starben wahrscheinlich weniger Japaner als in Tokio Opfer von Feuerstürmen wurden, nachdem amerikanische Flugzeuge in zwei früheren Nächten des gleichen Jahres die Stadt unerbittlich bombardiert hatten. Erschütternder war vielmehr die Tatsache, dass ein einziges Flugzeug mit einer einzigen Bombe ausreichte, um eine ganze Stadt zu zerstören.
Noch größere Aufmerksamkeit bekam die neue Wirklichkeit des Krieges in den darauffolgenden Jahren durch die nach und nach veröffentlichten Geschichten der Überlebenden, der Hibakusha. Den meisten Außenstehenden wurden sie erst durch den 1946 veröffentlichten Buchklassiker des amerikanischen Journalisten John Hersey mit dem schlichten Titel Hiroshima zugänglich.6 Darin verfolgte Hersey das Schicksal von sechs Hibakusha. Seither haben viele andere öffentlich ihre Geschichte erzählt – damit, wie sie sagen, die Welt nicht vergisst. Während meines Besuchs anlässlich der Gedenkfeiern 2016 nahmen mehrere von ihnen an einem Treffen teil. Keine Statistik kann den Geschichten, die ich dort gehört habe, gerecht werden.
Etwa der von Keiko Ogura, einer kleinen, quirligen Frau von neunundsiebzig Jahren. Sie war erst acht und auf dem Weg zur Schule gewesen, als sie durch die Detonation das Bewusstsein verlor. Nachdem sie wieder zu sich gekommen war, lief sie benommen durch die Straßen. Sie erinnerte sich, dass sie an Hunderten Toten und Sterbenden vorbeikam, deren verbrannte Haut sich vom Körper schälte. »Was mich am meisten verängstigte, waren die Leute, die mich am Fuß packten und sagten: ›Gib mir Wasser‹«, erzählte sie. »Von einem Brunnen bei einem Shinto-Schrein holte ich welches und gab es ihnen. Doch als sie es tranken, mussten sie sich übergeben und starben. Später hat mein Vater mir erzählt, Menschen mit Verbrennungen dürfe man kein Wasser geben. Noch Jahre danach hatte ich Albträume und machte mir Vorwürfe dafür, dass ich den Leuten Wasser gegeben hatte. Ich glaubte, ich hätte sie umgebracht. Bis mein Vater starb, habe ich niemandem davon erzählt. Es war eine unsichtbare Narbe.«
Kazuhiko Futagawa erzählte, dass er als ungeborenes Kind der Strahlung ausgesetzt war, weil seine Mutter über Tage die bombardierte Stadt durchstreifte. Sie suchte nach ihrem Mann, der im Hauptpostamt, nur zweihundert Meter vom Ground Zero entfernt, beschäftigt gewesen war, und nach ihrer dreizehnjährigen Tochter, die in fünfhundert Metern Entfernung Brandschneisen geschlagen hatte. Wie er berichtete, verloren Tausende Eltern aus den Vororten ihre Kinder, weil der Stadtrat von Hiroshima an diesem Tag die Jugendlichen ins Zentrum hatte bringen lassen, um dort Gebäude abzureißen und so das Risiko eines Feuersturms bei Bombenangriffen zu reduzieren.
Nach dem Treffen besuchte ich das Friedensmuseum von Hiroshima, das an einem Platz im Friedenspark steht, und fand Futagawas Geschichte bestätigt. Hiroshima ist eine Hafenstadt an der Trichtermündung des Ota und war eine von nur zwei Städten, die 1945 von den Amerikanern noch nicht bombardiert worden waren. (Die andere war die alte Hauptstadt Kyoto, deren sagenumwobene Tempel ein amerikanischer General früher einmal besichtigt hatte und deshalb vor der Zerstörung retten wollte.) Es gab Gerüchte – die sich bewahrheiten sollten –, wonach die Amerikaner womöglich etwas »Besonderes« mit Hiroshima vorhatten. Rund 8.400 Jugendliche arbeiteten am fraglichen Tag an den Brandschneisen; 6.300 von ihnen starben.
Im Museum waren mehrere Uniformen ausgestellt, die Schülerinnen und Schüler an diesem Tag zu Hause gelassen hatten, als sie die Brandschneisen anlegen gingen. Dort hing das Kleid von Noriko Sado, damals in ihrem ersten Jahr an der höheren Schule, gestiftet von ihrer Mutter Mieko, sowie Hose, Stiefel und Hut von Koso Akita, einem fünfzehnjährigen Jungen, dessen Eltern ihn gerade noch in den Trümmern fanden, ehe er starb. Außerdem sah ich eine Schuluniformbluse, gestiftet von Herrn Futagawa, dessen Vortrag ich zuvor gehört hatte. Sie war das Eigentum seiner älteren Schwester gewesen, die bei der Arbeit verglühte. Er hatte geweint, als er erzählte, wie er die Bluse nach dem Tod seiner siebenundachtzigjährigen Mutter sorgfältig gefaltet hinten in einer Schublade gefunden hatte. Ihr ganzes Leben lang habe seine Mutter sich geweigert, über die Katastrophe zu sprechen, die ihrer Familie widerfahren war. Die Bluse, sagte er, »war das Einzige, was ihr von ihrer Tochter blieb, doch erzählt hatte sie uns davon nie. Ich kann mir das Leid nicht vorstellen, das hinter diesem Geheimnis verborgen lag.«
Mit ergreifender Sorgfalt geben die Kuratoren des Museums die Identität jedes Opfers an, dessen persönliche Dinge dort ausgestellt sind. Daher wissen wir, dass das verbogene Dreirad in einem der Räume dem dreijährigen Shinichi Tetsutani gehörte und dass sein Vater es mit ihm bestattet hatte, sich dann aber anders entschied und es für das Museum exhumierte. Wir erfahren, dass Tsuneyo Okahara nach der Explosion der Bombe das Büro aufsuchte, in dem ihr achtundvierzig Jahre alter Mann Masataro damals arbeitete. Auf der verzweifelten Suche nach seinen Überresten durchsuchte sie das zerstörte Gebäude. Schließlich fand sie auf einem Schreibtisch seine Lunchbox und seine Pfeife aus Elfenbein – und Knochen auf dem Schreibtischstuhl. Der Anblick der Knochen bleibt uns erspart, aber die geschmolzene Lunchbox und die Pfeife sind ausgestellt.
Begonnen hatte mein Tag in Hiroshima mit der jährlichen Gedächtniszeremonie im Friedenspark, der dort angelegt ist, wo früher das dicht bevölkerte Innenstadtviertel Sarugaku-cho stand. Sie war kurz, aber ernst und fand zum Zeitpunkt des Bombenabwurfs statt. Die Familien der Hinterbliebenen schlugen die Friedensglocke an. Der Bürgermeister, der Premierminister und andere hielten kurze Reden, dann stiegen Friedenstauben auf, und es wurden Tausende von den Teilnehmern gefaltete Papierkraniche aufgehängt, die für die verstorbenen Kinder stehen.
Abseits der Zeltdächer für die geladenen Gäste stand eine stille Menschenmenge und folgte dem Ereignis auf Bildschirmen; die Musik und die Reden wurden von den Zikaden auf den Bäumen fast übertönt. Viele Besucher hatten Anstecker mit der Aufschrift »No Nukes« (Stoppt Atomwaffen) und Fächer mit der gleichen Botschaft mitgebracht. Einige alte Menschen standen in stummer Erinnerung mit ausdruckslosen Gesichtern da. Die meisten jedoch waren viel jünger. Für sie war das Ereignis ein erschütternder Teil der Geschichte. Es folgten einige – in meinen Augen – ausgesprochen sonderbare Formen des Gedenkens. Eine Frau im weißen Abendkleid sang mit zitternder Stimme, während eine andere – ebenfalls in Abendgarderobe – sie auf einem ramponierten Klavier begleitete, das die Detonation überstanden hatte. »Das bombardierte Klavier der verstorbenen Akiko« stand in englischer Sprache auf einem Schild.
Mich beeindruckte, wie die Menschen den Tatsachen ins Auge schauten. Niemand versuchte, seinen Kindern die Schrecken der Bombe zu ersparen. Während der Gedächtniszeremonie wurde von einem Jungen erzählt, der sah, wie »verkohlte Leichen die Straße blockierten. Ein unheimlicher Gestank drang mir in die Nase. So weit ich sehen konnte, erstreckte sich ein Feuermeer. Hiroshima war die Hölle auf Erden.« Zwei Sechstklässler trugen eine Friedenserklärung